Zeitzeugen erzählen: Letzte Orte vor der Deportation
Veranstaltungsdaten
- Datum
- 24. 1. 2017
- Veranstalter
- Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW)
- Ort
- Festsaal der ÖAW
- Veranstaltungsart
- Diskussion
- Teilnehmer
- Anton Zeilinger, Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
- Doris Bures, Nationalratspräsidentin der Republik Österreich
- Heidemarie Uhl, Historikerin
- Monika Sommer, Kuratorin
- Dieter J. Hecht, Historiker
- Michaela Raggam-Blesch, Historikerin
- Doron Rabinovici, Historiker, Schriftsteller
- Helga Feldner-Busztin, Zeitzeugin, Ärztin
- Arik Brauer, Zeitzeuge, Maler, Grafiker, Bühnenbildner, Sänger, Dichter
- Gerhard Baumgartner, Moderator, Journalist, Historiker
Den ersten Teil mit Gesprächen mit Historiker-/innen findet ihr hier.
Durch die Berichte von Zeitzeugen konnte die Situation rund um die Sammellager erforscht und für die Zukunft vor dem Vergessen bewahrt werden. Heute sind Arik Brauer und Helga Feldner-Busztin zu Gast, um ihre Erlebnisse zu schildern. Es beginnt damit eine Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels der Zeitgeschichte. (Doris Bures)
Das Gespräch führt Gerhard Baumgartner.
Ich begrüße Dr. Helga Feldner-Busztin und Prof. Arik Brauer. Sie sind beide Jahrgang 1929 und stammen aus Mischehen mit einem nicht-jüdischen Elternteil.
Wie haben Sie die Einführung des gelben Judensternes am 1.9.1941 erlebt?
Helga Feldner-Busztin:
Das war eine der größten Demütigungen, dass ich das habe tragen müssen. Man war ausgegrenzt, man war gezeichnet, die Leute haben einen beschimpft. Der war ja fest angenäht, und man hat sich nicht getraut, ohne Stern zu gehen.
Arik Brauer:
So was vergisst man natürlich nie. In meinem Ariernachweis stand: Jude. Ich hatte den Stern, aber ich habe ihn nicht angenäht, er war mit Druckern befestigt und ich habe ihn oft runtergenommen. Ich habe nicht sehr jüdisch ausgeschaut und habe einen breiten Ottakringer Dialekt gesprochen, das war hilfreich.
Herr Prof. Brauer, wir kennen Sie als Begründer des Phantastischen Realismus, aber auch als Bühnenbildner, als Sänger, als Künstler. Wie sah ihr Leben zu der Zeit dort aus?
Arik Brauer:
Ich habe damals in der Kultusgemeinde „Ältestenrat der Juden in Wien“ in der technischen Abteilung gearbeitet. Die jüdischen Institutionen haben ja allesamt bis 1945 existiert. Es gab das Altersheim, das Kinderheim, den jüdischen Friedhof, das Rothschild-Spital, ein Kinderspital, ein weiteres jüdisches Spital.
Ich war in der Tischlerwerkstätte dieses Ältestenrats, der einen wesentlichen Teil der Schmutzarbeit hat machen müssen. Ich habe drei Jahre lang in dieser Tischlerei gearbeitet.
Offiziell haben wir alle diese Institutionen technisch betreut. De facto haben wir vor allem Luxusmöbel für die Gestapo erzeugt.
Wir haben aber auch die Lager betreut, ich habe viele Wochen in der Malzgasse gearbeitet. Dort kamen viele Juden hin, da musste der Keller ausgeräumt werden und ich musste tagelang die vielen schweren Türen auf den Dachboden tragen. Ich war am Ende meiner Kräfte; dann traf ich eine ehemalige Schulkollegin aus der jüdischen Schule, die mir half, sonst hätte ich das vermutlich nicht geschafft.
Ich habe diese Freundin – meine Jugendliebe – gefragt: „Warum flüchtest du nicht?“ Die Türen waren offen, es war ja kein Gefängnis. Sie sagte: „Meine Eltern und Geschwister sind hier, wo soll ich hingehen?“ Ich wollte ihr helfen, ich hatte noch nicht-jüdische Verwandte mit Schrebergärten. Sie sagte, sie wolle mit ihren Eltern reden und gäbe mir am nächsten Tag Antwort. Aber am nächsten Tag war sie nicht mehr da.
Frau Dr. Feldner-Busztin, wann sind Sie in das Sammellager gekommen und wie haben Sie das erlebt?
Helga Feldner-Busztin:
Die Nürnberger Gesetze besagten ja, dass man bis 14 den Status der Mutter hatte. Meine Mutter war ein Mischling und ihr lebender arischer Vater war ein alter österreichischer Offizier und mit dem Kaltenbrunner zusammen in der Offiziersakademie. Er war dann beim Kaltenbrunner, der eine Spur von einer Offizierssolidarität gehabt hat, und der hatte ihm gesagt, dass der Tochter nichts passieren wird. Er hat aber die Kinder nicht mit einbezogen, und ich bin im Februar 1943 14 geworden.
Als ich dann 14 war, sind wir in das Sammellager in der Malzgasse gekommen. Meine Schwester hatte zu dem Zeitpunkt Scharlach und war im Infektionsspital, mit der Protektion meines Großvaters konnten wir die Quarantäne abwarten und ich kam dann in die Mohapelgasse (heute: Tempelgasse) ins Kinderheim. Mein Vater war Arzt und kannte den Chefarzt dort, und der hat meine Mutter aus dem Lager genommen und ins Spital gelegt. Also habe ich dieses Sammellager nur oberflächlich gekannt.
Sie wurden dann ja deportiert mit Ihrer Mutter, nicht?
Helga Feldner-Busztin:
Ja, wir haben dann den nächsten Transport abgewartet und sind mit dem gefahren. Wir haben kaum eine Bewachung gehabt, wir sind dort von Juden übernommen worden, entlaust worden, untersucht worden, aber wir haben unser Gepäck bekommen. Und das war ja doch sozusagen ein Vorzeigelager.
Man hat dort nichts zu Essen bekommen und es gab Wanzen und die Strohsäcke… aber es war eine jüdische Selbstverwaltung, und man ist nicht direkt mit der SS in Kontakt gekommen.
Ihr Vater hat mehrere Konzentrationslager überlebt?
Helga Feldner-Busztin:
Mein Vater war Polizeiarzt. Er ist im Oktober 1943 verhaftet worden und war dann bis Juli in Buchenwald, wo er einen Großteil der späteren Regierung kennengelernt hat, und musste dann sofort wegfahren. Wir hatten eine Schiffskarte nach Shanghai. Er ist dann nach Genua gefahren, und dann sind wir drauf gekommen, dass es dieses Schiff nicht gegeben hat. Er war in Italien und hat sich dort eine winzige Existenz aufgebaut mit Hilfe der dortigen Kultusgemeinden.
Dann haben auch die Italiener die Juden in Sammellager gebracht, aber das war nicht wie hier; das war in einem Schloss, und das erste, was die Deutschen taten, als sie nun dorthin kamen, war, die Juden von dort nach Auschwitz zu bringen. Dort war mein Vater sehr lange, von April bis Jänner.
Herr Prof. Brauer, wie erlebt man denn dann die Befreiung, wenn man so lange ein Außenseiter war? Können Sie sich daran noch erinnern, an dieses Gefühl?
Arik Brauer:
Im letzten Moment, Winter 1945, wurde die Tischlerei aufgelöst und ich wurde auch ausgehoben: Da kam ein Jud und führt mich in die Castellezgasse.
Dort ist ein Vermittler gesessen, der nimmt mir die Kennkarte weg und sagt mir, ich muss mich bereit halten, zum Transport. Aber ich bin nicht dort geblieben, ich bin rausgefahren und verschwunden, ich habe mich versteckt in einem Schrebergarten und dort die Befreiung erlebt.
Ich habe die Schüsse der russischen Armee gehört, die den Wienerwald runterkamen, über den Flötzersteig. Dann ging ich natürlich sofort raus, und die Russen kamen. Mein Vater war ja Russe, und ich konnte fünf oder sechs Worte auf Russisch. Ich bin neben dem Panzer hüpfend den Flötzersteig runter und habe jubelnd russische Lieder gesungen.
Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt eben geboren wurde. Das kann man sich gar nicht vorstellen, den Unterschied zwischen Freiheit und Unterdrückung. Ich meine, da war das ganze Elend, das Nachkriegselend – das war für mich ein Paradies. Ich bin getanzt durch die Stadt, in der es nach Leichen stank.
Frau Doktor, wo haben Sie denn die Befreiung erlebt, und war das ähnlich euphorisch?
Helga Feldner-Busztin:
Ich war zwischendurch auch auf der Liste für einen Auschwitz-Transport. Das erste Mal war ich allein, im Herbst 1944. Es hat sehr lang gedauert, und ich habe mich ein bisschen hingelegt. Als ich aufgewacht bin, war der Transport weg, und sie sagten: „Dann fährst du halt mit dem nächsten.“
Und zum nächsten hat sich dann meine Mutter dazu gemeldet, aber die haben ihre Meldung nicht angenommen, und da hab ich das Gleiche absichtlich gemacht.
Und das dritte Mal, da habe ich in der Landwirtschaft gearbeitet, in Theresienstadt. Das war außerhalb vom Lager, und ich habe eine Befreiung bekommen, weil die eben keine Arbeiter mehr hatten.
Und am 7. Mai 1945 sind wir auf ein Feld gegangen in ein Glashausbeet. Rundherum waren plötzlich Erdhügel, und dann kommen aus den Erdhügeln Bajonette und Kappen mit einem Sowjetstern. Wir haben den Sowjetstern gesehen, die haben den Judenstern gesehen, und da sind sie runtergekommen und haben uns gefüttert und waren sehr nett – es ist niemand vergewaltigt worden.
Diese Befreiung war etwas, das ist unbeschreiblich: Dass man plötzlich den Judenstern weggegeben hat und kein Ausgegrenzter mehr war.
Wir haben sogar meinen Vater wiedergefunden. Man kann sich nicht vorstellen, wie er war nach Auschwitz, aber er hat dann einen gewissen Lebensmut gefasst, und wir waren frei.
Um noch einmal zu Ihnen zu kommen, Herr Professor: Wie ist das dann – Sie haben das jetzt so euphorisch beschrieben, aber dann kommt man drauf, dass die Verwandten und Freunde alle weg sind. Wie geht man mit diesen gemischten Gefühlen um?
Arik Brauer:
Ich war 16 Jahre alt, ich hatte keine Kindheit in einem Palast hinter mir, der mir entwendet wurde. Natürlich habe ich auch unter Nahrungs- und Kleidungsmangel gelitten; aber diese ganze Enttäuschung, die so viele hatten, die jetzt ihr Eigentum wiederhaben wollten und es nicht bekommen haben, das alles hatte ich nicht.
Meine Mutter hat sich bemüht, aus der Werkstatt meines Vaters – der in Riga vergast wurde – etwas zu bekommen, aber die war in der Kristallnacht enteignet worden. Dass wir da nichts bekommen haben, das war mir Wurscht. Ich hab in die Zukunft geschaut, und jetzt ist sowieso alles leiwand, weil jetzt kommt die klassenlose Gesellschaft und da kann uns ja nichts mehr passieren. Also ich war ja naiv und dumm genug, sodass ich das alles fantastisch verkraftet habe.
Ich habe jahrelang natürlich geträumt von meinem Vater, und ich habe auch Angstträume gehabt, das kannte ich schon. Und in der Erinnerung mischen sich auch die Träume mit Erlebnissen; bei manchen Erinnerungen kann ich nicht mehr sagen, ob das wirklich passiert ist oder ob ich das geträumt habe.
Und wenn Sie heute durch die Stadt gehen, z.B. am Morzinplatz oder im 2. Bezirk, kommt das wieder?
Arik Brauer:
Nein, ich erinnere mich an vieles sehr genau. Aber es ist fast, als ob das jemand anderes gewesen wär, denn ich habe mich inzwischen so verändert, und ich kenne die Geschichten. Das ist, als wenn es jemand anderer erlebt hätte.
In der Tempelgasse (damals: Mohapelgasse) habe ich damals dieses Mädchen kennengelernt. Sie konnte kaum sprechen und galt als „schwachsinnig“, aber in Wirklichkeit war sie eine Autistin. Sie hatte eine schwarze Blockflöte, konnte aber nicht drauf spielen. Ich habe ihr das dann ein bisschen gezeigt und sehr schnell gemerkt, wie wahnsinnig musikalisch sie war. Als sie dann weggefahren ist – sie konnte kaum reden, aber sie wusste, was ihr blühte – hat sie mir ihre Flöte geschenkt. Die habe ich heute noch.
Helga Feldner-Busztin:
Das ist ja schon 75 Jahre her jetzt, ich habe das völlig überwunden, ich habe seither soviel erlebt.
Ich hab’s nicht vergessen, aber es berührt mich emotional nicht so stark wie früher.
Wenn man dann weiß, wie viele von den Tätern danach noch lange in Wien gelebt haben – hat Sie das berührt, war das ein Thema?
Helga Feldner-Busztin:
Oh ja, speziell am Anfang war ich ich voller Hass, denn auch nachdem das vorbei war gab es ja kein Willkommenskommittee, es war eher mühsam, sich wieder einzufügen. Aber ich habe dann gesehen, dass die anderen auch Verluste gehabt haben: der Vater gefallen, der Bruder in Kriegsgefangenschaft, die Familie ausgebombt etc.
Das mit den Wohnungen war keineswegs einfach. Die erste Wohnung, die wir bekommen haben, haben wir mit einem Nazi geteilt, das war eine arisierte Wohnung.
Über die Jahre musste ich lange immer noch besser sein als die anderen, um ihnen zu zeigen, dass ich kein Untermensch bin. Ich war unglaublich ehrgeizig, und das war mit ein Motiv.
Herr Prof. Brauer, Sie sind ja dann weg aus Österreich. Was hat Sie dann bewogen, doch wieder zurück zu kommen?
Arik Brauer:
Ich bin nie aus Österreich weggegangen aus Enttäuschung oder Hass Österreich gegenüber.
Ich habe sehr bald in meinem Leben gelernt, dass die Menschheit nicht aus Paketen von Menschen besteht, sondern aus Einzelpersonen. Gäbe es nicht diese ganz tiefe Tendenz der Menschen, Pakete zu schnüren: „die Juden“, „die Araber“, „die Österreicher“, dann könnte man nicht Krieg führen.
Das ist natürlich sehr mühsam, und nicht jeder will das machen, dass er die Menschen als Einzelpersonen versteht und begreift.
Ich bin nach Israel gegangen, um es kennenzulernen, und bin dort hängengeblieben, und zwar für mein ganzes Leben. Viele Jahre habe ich in Paris gelebt, aber der Grund dafür war, dass ein Maler halt in Paris sein muss, damit er einen Glorienschein kriegt.
Helga Feldner-Busztin:
Ich schließe mich da ganz ihm an. Aber es braucht eine gewisse Reife, um zu sehen, dass man die Leute einzeln beurteilen muss.
Deswegen gehe ich auch in die Schulen und rede mit den Schülern, damit sie nicht sagen „die Flüchtlinge“, „die Araber“, „die Juden“, sondern verstehen, dass jeder eine Chance verdient hat. Und wenn ich ihnen das vermitteln kann, dann ist viel erreicht.
Diese Erinnerungen zu bewahren, hat sich u.a. die Akademie der Wissenschaften zur Aufgabe gemacht, damit kommende Generationen nicht nur über Fakten, sondern auch über Emotionen Zugang finden zu diesem schwierigen, aber enorm wichtigen Thema unseres Landes. Und damit Vergleichbares nie wieder geschehen kann.
[…] Zum zweiten Teil mit Zeitzeugenberichten geht es hier. […]