Zehn Tage lang Schweigen
Zum allerersten Mal erfuhr ich etwas über Vipassana, als mir einer meiner Freunde davon erzählte; vor einiger Zeit besuchte dieser nämlich einen Vipassana-Kurs.
Vipassana ist eine uralte Meditationstechnik des Schweigens und verhilft dazu, die Dinge objektiv zu sehen, nämlich so, wie sie wirklich sind.
Vapassana ist nicht nur als eine Technik zu betrachten; darüber hinaus ist sie eine Lebenskunst, die vor mehr als 2500 Jahren von Gautama Buddha eingeführt wurde. Das Ziel ist die Reinigung des eigenen Verstandes, indem alle tief verwurzelten Verunreinigungen ausgelöscht werden und schließlich der Zustand der sogenannten vollkommenen Befreiung erzielt wird:
Eine seelische Ausgeglichenheit, befreit von allem Leid – erfüllt mit Liebe und Mitgefühl.
Jeder Mensch egal welchen Glaubens ist eingeladen, dieses wundervolle Dhamma auszuprobieren. Dhamma in den Pali Schriften, oder Dharma in der Sanskrit Sprache, hat mehrerlei Bedeutung, wird aber zumeist wie das Naturgesetz angewandt, welches die soziale, moralische sowie die spirituelle Harmonie in unserem Leben festlegt; weiters bedeutet Dhamma auch die Wahrheit, welche Buddha lehrt.
Als mir mein Freund über seine Erfahrungen erzählte und davon, dass man da ganze 10 Tage lang mit niemand sprechen darf, dachte ich, das sei mir zu crazy und dass ich niemals dazu fähig wäre. Und doch, so sehr mir das Ganze Angst einjagte, so sehr weckte es auch die Neugierde in mir. Ich wollte also mehr darüber herausfinden. Einige Monate später dachte ich immer noch darüber nach, und so begann ich, mal darüber zu nachzulesen und zu recherchieren. Ich fand einen Dokumentarfilm, der heißt: „Doing time, doing Vipassana (1997)“
Dieser Film handelt vom größten Gefängnis in Südasien, das Tihari Gefängnis, welches sich in Neu Delhi, in Indien befindet. Die erste weibliche Gefängnisdirektorin des Tihari Gefängnisses entwickelte die Idee, die Vipassana-Methodik anzuwenden – da sie für die Gefängnisinsassen einen Weg der Selbstveränderung durch Selbstbeobachtung ebnet und ihnen dazu verhilft, ihr Leben und ihren Verstand zu kontrollieren, Harmonie in sich selbst zu erlangen und ein balancierteres Leben zu führen – also glücklicher zu sein.
Sie ist des Glaubens, dass Insassen, wenn man sie wie „Tiere“ behandelt – also auf unmenschliche Art und Weise – nie mehr wieder dazu fähig sein würden, sich in die Gesellschaft einzugliedern und vielleicht sogar noch „böser“ würden, als sie zuvor waren.
Sie möchte ihnen die Chance geben, diese spirituelle Reise der Selbstveränderung zu unternehmen und inneren Frieden zu finden.
Also lud sie S.N. Goenka ein – das ist ein früherer Geschäftsmann aus Burma/Myanamar, der diese Mediationstechnik 1969 nach Indien brachte. Er selbst litt viele Jahre lang an schwerer Migräne und suchte weltweit Hilfe bei verschiedenen Ärzten, doch nichts half. Nach einiger Zeit belegte er einen Vipassana Meditationskurs – und das veränderte sein Leben von Grund auf. Er wandte sich schließlich dieser Technik komplett zu und begann, mehrere Zentren weltweit zu finanzieren, in denen 10-Tages Meditationskurse besucht werden können und die hauptsächlich auf Spenden ehemaliger Studenten bauen. Goenka kam also und hielt einen Kurs im Tihari Gefängnis ab.
Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand, wie Vipassana bei den Gefangenen ankommen würde, doch das Resultat war zum Glück erstaunlich. Viele Häftlinge besuchten den Kurs und arbeiteten sehr hart, ruhig und geduldig an sich. Da sich das Ergebnis als besonders positiv herausstellte, wurden von dieser Zeit an zwei 10-Tageskurse pro Monat im Tihari Gefängnis unternommen; auch die indische Regierung beschloss, Vipassana in allen Landesgefängnissen einzuführen. Kürzere Kurse über drei Tage lang wurden auch in Schulen gehalten, damit sich die Konzentration von Schülern unterschiedlichen Alters erhöht. Auch andere Länder folgten diesem Beispiel und zeigten Interesse, Vipassana bei Gefängnisinsassen anzuwenden.
Nachdem ich mir diesen Film angesehen habe, beschloss ich, diese Technik selber auszuprobieren. Ich fand heraus, dass unterschiedliche Kurse auf der ganzen Welt verteilt an sehr friedvollen Plätzen gehalten werden, in naturbelassenen Gegenden und auf Spenden aufgebaut. Trotz des hohen Angebots an Kursen für ca. 100 Studenten oder sogar mehr – 50 weibliche und 50 männliche, geschlechtlich strikt getrennt – ist die Nachfrage sehr stark; deshalb ist es angeraten, sich sehr früh anzumelden, um noch einen Platz zu ergattern: https://www.dhamma.org/en/index
Vor einiger Zeit meldete ich mich für die verschiedensten Kurse an, machte sie aber am Ende nicht, da sich dafür nie die „perfekte Zeit“ ergab; schließlich muss man 10 Tage vorher entscheiden, ob man bereit ist, sich von der Gesellschaft wegsperren zu lassen und den Nichtkontakt zur Außenwelt einzuhalten.
Weiters hatte ich auf die eine und andere Weise auch Angst davor, was diese Meditation mit mir anstellen würde und ob ich vielleicht dadurch verrückt werden würde, wenn ich für so lange Zeit mit niemand sprechen dürfte.
Ein Jahr später jedoch, also jetzt, scheine ich dafür bereit zu sein, und ich melde mich für den Kurs in Dharamkot/Dharamsala (Himachal Pradesh, Nordindien), das sich in der himalayischem Gebirgsregion befindet, an. Dies scheint der richtige Platz für eine Meditation zu sein, da selbst der Name der Stadt spirituelles Haus (Dharam = Religion und Shala = heiliger Ort) bedeutet und er ebenso nahe der Heimat des tibetischen spirituellen Führers, des Dalai Lama liegt. Ich habe ein gutes Gefühl dabei und verstehe nun, warum aus all den anderen Kursen zuvor nichts wurde.
Ich komme an einem verregneten Tag an und steige die Stufen hoch, um das Zentrum zu erreichen – und bin umgeben von atemberaubenden Bergen in der Himalaya-Gegend und von riesigen Pinien. Die Atmosphäre ist friedlich, und ich bin nun von der Außenwelt abgeschottet. Als ich mich anmelde, teilen mir die Voluntäre die Regeln mit: Alkohol, Zigaretten, Essen von draußen oder andere Ablenkung wie Bücher, Musik, Schreibmaterial usw., elektronische Geräte oder sexueller Kontakt – all dies ist zu unterlassen. Man muss das edle Schweigen für die gesamte Kursperiode streng einhalten, was so viel heißt, dass man mit niemand sprechen darf, auch Augen- und körperlicher Kontakt sind zu vermeiden. Die einzige Person, mit der man zu gewissen Stunden sprechen darf, ist der Lehrer, damit die Meditationstechnik zur Erfassung und zum Verständnis erklärt werden kann.
Nachdem mir alle Regeln mitgeteilt wurden, werde ich ein letztes Mal gefragt, ob ich tatsächlich gewillt sei, sie die nächsten 10 Tage auch zu akzeptieren und zu befolgen und mich dementsprechend zu verhalten. Es fühlt sich alles wie ein freiwilliges Gefängnis an, zumal es Regel ist, dass, man das Zentrum nicht verlassen darf, wenn man es einmal betritt; weiters bin ich mir immer noch nicht sicher, was das 10-tägige Einhalten des Schweigegelübdes betrifft.
Und trotzdem antworte ich mit einem klaren JA.
Im Anschluss erledige ich die letzten wichtigen Telefonanrufe und verstaue mein gesamtes Hab und Gut in den dafür vorgesehen Spind. Als ich den Schlüssel für meine Unterkunft für die nächsten 10 Tage erhalte, betrete ich das eigentliche Zentrum; ein hübscher Weg führt mich zum Haus D4. Jedes Haus ist mit Gitterstäben versehen und ähnelt einer Art Käfig, somit tatsächlich einem Gefängnis: Das Meditationszentrum ist ebenso die Heimat einer Affenhorde, und die wird dem Menschen potentiell gefährlich (deshalb die Gitterstäbe).
Als ich die Tür öffne, gelange ich in einen sehr einfach eingerichteten Raum mit vier Betten und ziemlich dünn beschichteten Matratzen, und jedes einzelne Bett ist durch Holzwände separiert, also nicht durch Türen; somit ist für Privatsphäre gesorgt. Nun treffe ich meine Zimmerkolleginnen, mit denen ich diesen Raum für die nächste Zeit teile: drei indische Frauen verschiedenen Alters aus den unterschiedlichsten Landesteilen.
Da heute Einführungstag ist, ist es uns noch erlaubt, miteinander zu reden. Es tut gut, sich mit den anderen gedanklich auszutauschen.
Um 17 Uhr begeben wir uns in den Essraum zum Abendessen; es gibt einen Snack bestehend aus Puffreis und Erdnüssen, Keksen und Milchtee – und wir werden über die Tagesordnung informiert: Aufstehen um 4 Uhr Früh, Schlafenszeit um 21 Uhr, Frühstück um 6:30 Uhr Früh, Mittagessen um 11 Uhr und ein leichter Snack um 17 Uhr (kein Abendessen).
Dazwischen herrscht strenge Meditation, wobei es Ruhezeiten nach jeder Mahlzeit gibt, und am Abend Videovorführungen, die die Meditationstechnik profund erklären. Aus Neugierde schaue ich mich um und erblicke Frauen und Männer unterschiedlichen Alters und jeder Nationalität: Inder, Russen, Europäer, Australier … Ich spreche mit der einen oder anderen Person und realisiere, dass es bald an der Zeit ist, nach dem Abendessen das edle Schweigen einzuhalten. Kein Reden mehr …
Starke Müdigkeit überfällt mich, deshalb fällt mir das Einschlafen leicht und ich schlafe wie ein Baby …
Um 4 Uhr Früh am nächsten Morgen, höre ich einen lauten Dong – den Weckruf -, gefolgt von einem hellen Glöckchenklang. Das erinnert mich an das Glöckchen, das meine Eltern aus weihnachtlicher Tradition verwenden, um uns Kindern zu signalisieren, dass das Christkind kommt; und die Voluntäre, die „Dhamma Diener“ gehen von Zimmer zu Zimmer, um sicherzugehen, dass wir alle aufstehen. Ich sterbe vor Hunger – meine letzte Mahlzeit liegt zwölf Stunden zurück, aber es ist Meditationszeit – also dauert es noch zweieinhalb Stunden bis zum Frühstück. Wir bewegen uns in die Meditationshalle und werden über die Technik namens Anapana aufgeklärt mithilfe der Audio-Aufnahmen von S.N. Goenka.
Goenka erklärt, dass wir uns auf unseren Atem konzentrieren sollen – im triangularen Bereich der Nase (der obere Bereich formt sich aus dem Punkt zwischen den Augen, und der untere Bereich – die sogenannte Basis – besteht aus den Nasenlöchern und dem Bereich oberhalb der Lippe) – wie die Luft reinkommt, wie sie wieder rauskommt – man beobachtet dabei den natürlichen Fluss der Atemluft objektiv. Dabei sollte man versuchen, zu erkennen, wo die Luft die Haut berührt und ob sie aus dem linken oder aus dem rechten Nasenflügel oder aus beiden Flügeln gleichzeitig kommt. Zu Anfang ist das sehr schwierig, da einem viele Gedanken im Kopf herumschwirren: Gedanken über die Vergangenheit, die Zukunft, nur keine Gedanken den derzeitigen Moment betreffend – nämlich der Meditation.
Wir Menschen verfügen wirklich über einen ganz wilden Verstand, ähnlich dem wilder Tiere – dem eines wilden Affen, der sehr schwierig zu zähmen zu sein scheint.
Für den, der sich anfänglich plagt und sich schlecht fühlt, weil er sich nicht konzentrieren kann, wird es immer schwieriger; man muss seinen wilden Verstand akzeptieren und lächelnd zur Meditation zurückkehren. Sobald ich die Glocke höre, weiß ich, dass es Frühstückszeit ist, und ich haste in den Essensraum.
Zu meiner Überraschung ist das Essen sehr gut: Das Frühstücksangebot besteht aus einer Vielfalt von Früchten, Milchtee, trockenem Brot, Toast oder Cornflakes und man darf so oft nachbestellen, wie man möchte. Nach dem Frühstück darf man sich bis 8 Uhr Früh ausruhen, denn im Anschluss beginnt die Meditationsgruppensitzung – da muss jeder im Meditationsraum anwesend sein, und keiner darf den Raum über eine Stunde lang verlassen. Wir fangen damit an, uns auf unser Atmen zu konzentrieren, und in dem Moment, da ich Erfolge verspüre, höre ich die Glocke wieder, die sogenannte Meditationsglocke. Da ist mir klar, dass Essenszeit ist.
Die Zeit verfliegt wie im Fluge, wenn man meditiert.
Mittags gibt es vegetarische, indische Küche – Buddhisten und Hindus verzehren nämlich kein Fleisch: Sie unterstützen es nicht, dass Tiere dafür getötet werden. Es gibt: frischen Salat, Reis und Linsensuppe, gekochtes Gemüse, Chapati (indisches Fladenbrot) und manchmal Curt (das ist indisches Yoghurt), Paneer (indischer Cottage Cheese) sowie verschiedenste Süßspeisen. Das ist erfreulich, denn das Menü variiert täglich. Während der Essenszeit nimmt man seinen Platz so ein, dass man sich von den anderen abwendet; also entweder mit dem Gesicht zur Wand oder zum Fenster positioniert. Am Anfang wirkt es eigenartig, in einem menschenerfüllten Raum zu sitzen und niemand anzusehen oder mit niemand zu reden, aber nach einiger Zeit gewöhne ich mich an die bloße Präsenz von mir selbst. Ich muss sagen, es fängt an, mir zu gefallen.
Damit will ich sagen: Wann werde ich jemals wieder die Gelegenheit haben, mit niemand zu kommunizieren, ohne dabei als antisozial oder Psycho gesehen zu werden?
Am Nachmittag, nach dem Mittagessen also, gehe ich ein wenig spazieren und schaue mir die Natur an: Es gibt jede Menge Schlangen, Katzen und Hunde, aber am allermeisten interessieren mich die wilden Affen. Es gibt an die Hundert dieser Affen, und sie laufen den ganzen Tag durch das Zentrum. Es ist sehr fein, die Gelegenheit zu haben, ihnen so nahe zu sein und sie in ihrem natürlichen Gehabe zu beobachten. Wir wurden aber beraten, ihnen nicht direkt in die Augen zu starren, da sie sich sonst bedroht fühlen und ihnen auch nicht zu nahe zu treten, zumal schon Attacken auf Menschen stattgefunden haben.
Um 13 Uhr ist wieder Meditationszeit. Diesmal haben wir die Wahl: im eigenen Räumen meditieren oder in der Dhamma Meditationshalle. Ich bevorzuge die Gemeinschaftshalle, denn ich befürchte, einzuschlafen, wenn ich das in meinem Zimmer mache. Um 14:30 Uhr folgt das nächste Meditationsgruppensitzen über eine Stunde lang. Und um 15:30 Uhr fragt der Lehrer alle einzeln, wie sich die Meditation bei jedem entwickelt und dabei alle noch bestehenden Zweifel weggewischt sind.
Um 17 Uhr begeben wir uns in den Essraum, um unsere letzte Mahlzeit für heute einzunehmen: Puffreis mit getrockneten Erdnüssen, Keksen und Milchtee; ehemalige Studenten (die den Vipassana-Kurs bereits abgeschlossen haben) dürfen ausschließlich Ingwertee trinken.
Um 18 Uhr findet das letzte Gruppensitzen statt, und danach sehen wir uns den Videolehrgang von Mr. Goenka an, der alles bis ins Detail erklärt. Das wirkt auf mich sehr motivierend, denn er spricht auch darüber, welchen Kämpfen man am ersten Meditationstag begegnet; er gibt Beispiele aus eigener Erfahrung, dass er z.B. aus dem Zentrum fliehen wollte usw. Das beruhigt mich, denn ich fühle mich nun nicht allein mit diesen Gedanken – jedem scheint es so zu gehen. Außerdem ist er sehr lustig und erzählt seine Geschichten und wir haben alle Spaß beim Videoschauen. Kurz vor dem Zubettgehen, um 21 Uhr, haben wir die Möglichkeit, dem Lehrer Fragen zu stellen, falls uns noch Zweifel bedrücken.
Die allerschwierigste Zeit ist für mich die Nacht, wenn ich mich zum Schlafen niederlege. Ich liege da – die Augen sperrangelweit auf, bin nicht müde, meine Gedanken fliehen in die unterschiedlichsten Richtungen und es ist nichts da, was ich tun kann: kein Film, keine Musik und kein Buch. Einmal ging ich nach draußen, wurde aber geradewegs in mein Zimmer zurückgeschickt, da ja Schlafenszeit ist.
Am nächsten Tag ist unser Fokus auf einen kleineren Bereich beschränkt – und zwar auf den Bereich rund um die Nasenlöcher und darunter. Sich auf einen kleineren Raum zu konzentrieren, verhilft, seinen Verstand zu schärfen und die Berührung der Luft noch intensiver zu spüren. Dank dieser Wachsamkeit beginnt man, Eindrücke zu spüren, von denen man nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Auch wenn es sich da nur um einen kleinen Fortschritt, um einen Babyschritt, handelt, bemerke ich bereits am zweiten Tag, dass es mit dieser Atemtechnik jeden Tag insgesamt besser wird:
Der Kopf wird ruhiger, stiller – die Gedankenmuster ändern sich Schritt für Schritt.
Am vierten Tag werden wir in die gegenwärtige Vipassana-Methode eingeführt. Diese Atemmethode ist eine Technik, mit der sich der Verstand anpasst, ruhiger gestellt und schärfer wird, um die unterschiedlichen Eindrücke zu spüren, die in jedem Moment unseres Lebens in uns fließen. Wahrnehmungen passieren in unserem Körper permanent; es gibt so viele davon z.B. kleine, gross, erfreuliche, unerfreuliche.. Und doch haben sie alle etwas gemeinsam:
Eindrücke sind unbeständig: So schnell, wie sie auftauchen, verschwinden sie auch wieder.
Wer Vipassana anwendet, beobachtet seine eigenen Sinneseindrücke – von Kopf bis Fuß und vize versa, in jeder Faser seines Körpers – und das objektiv. Das bedeutet, man beobachtet seine eigene Wahrnehmung (die Realität), wie sie wirklich ist und, was noch viel wichtiger ist: Man reagiert nicht auf sie. Die Lehren des Buddha – Buddha heißt nichts Anderes als der Erleuchtete und stellt den höchsten Grad von Spiritualität dar, den ein Mensch überhaupt erreichen kann; theoretisch kann also jeder Buddha werden – besagen:
Du sollst nicht tanzen, wenn du glücklich bist, nicht weinen, wenn du traurig bist. Nur wenn du ein Gleichgewicht in deinem Verstand erreichst, wirst du dich von deinem Leid befreien.
Was er damit sagen will: Wenn man die Realität so betrachtet, wie sie tatsächlich ist, ohne sie zu verändern und ohne auf sie zu reagieren, egal ob gerade in einem Moment etwas Schlimmes oder etwas Gutes passiert und dabei das Wichtigste versteht, nämlich dass es wieder verschwindet, da nichts für die Ewigkeit ist, dann wirst du dein eigenes Leid loswerden und ein ausgeglichenes Leben führen.
Wenn du dich also in einer kritischen Zeit deines Lebens befindest, sagst du zu dir selbst: „Auch das geht vorbei“, denn nichts ist für die Ewigkeit.
Ob Eindrücke erfreulich oder unerfreulich sind: kalt, warm, juckend, voll Leid, elektrische Ströme etc. – man solle nicht darauf reagieren, in dem Verständnis, dass alles nicht für die Ewigkeit bestimmt ist.
Wenn man seine eigenen Wahrnehmungen objektiv betrachtet und nicht darauf reagiert, so, wie unser Unterbewusstsein sonst immer tut, würde man von alten Mustern befreit – Sankara nennt sich das, und heißt: die alten Reaktionen auf Dinge; sie gelangen so an die Oberfläche gelingen und lösen sich auf. Und dadurch, dass man nicht nicht darauf reagiert, werden keine neuen Sankaras (Reaktionen) erzeugt. Also auch kein neues Leid. Das könnte in den Zustand der vollkommenen Befreiung des eigenen Verstandes führen; und dabei sind die Qualitäten der 10 Tugenden (parami) zu befolgen:
- nekkhama (Verzicht)
- sila (Moral)
- virtya (Mühe)
- khanti (Toleranz)
- sacca (Ehrlichkeit)
- adhittana (Entschlossenheit)
- panna (wisdom)
- uphekka (equanimity)
- metta (selbstlose Liebe)
- dana (Großzügigkeit)
Es ist klar, dass die Veränderungen nicht innerhalb eines Tages passieren können, aber hier geht es um ein Konzept; wenn man sich also täglich daran hält, werden positive Ergebnisse erzielt und Verbesserungen in der einen oder anderen paramita (Tugend) bemerkt.
Zuerst schwindet der Verstand in alle Richtungen, sucht nach jeder noch so kleinen Zerstreuung: Entweder hustet oder niest da jemand, oder Affen sind oben am Dach, der Regen tropft vom Himmel (das passiert hier übrigens täglich, da Monsoon ist, der eine feine und entspannende Atmosphäre während der Meditation bietet) oder ein Lichtstrahl kommt durch das Fenster; jede Gelegenheit scheint gut genug, an etwas Anderes zu denken. Zumeist kommen mir Erinnerungen aus meiner Kindheit hoch, Dinge, an die ich mich nicht mehr so klar zurückerinnere. Das ist sehr fein, und ich genieße jedes Bild meiner Kindheit in meinem Kopf – vergleichbar mit einem Film, der vor meinen Augen abgespielt wird.
Ich höre, dass jemand weint und all seinen Gefühlen freien Lauf lässt, da er oder sie scheinbar ein traumatisches Ereignis oder einen glücklichen Moment aufarbeitet. Während der Meditation realisiere ich, dass meine Sinne viel wacher geworden sind: Ich rieche und höre Dinge nun viel intensiver als zuvor, und jeder Klang ist klar. Weiters bemerke ich, dass ich in jenen Momenten, da ich meinen Verstand total abschalte, mich komplett auf den gegenwärtigen Moment konzentrieren und mich vollkommen der Meditation hingeben kann – das erfüllt mich mit einem wunderschönen, mir unbekannten, einzigartigen und befriedigenden Gefühl. Es fühlt sich wie ein Fluss an, der den gesamten Körper durchströmt und ihn mit enorm viel Energie auftankt.
Vom Tag 4 an haben wir dreimal täglich die 1-Stunde-Gruppensitzungen, an denen es nicht gestattet ist, die Position zu wechseln oder die Augen zu öffnen. Dieses Gruppensitzen unterstützt dabei, eine der 10 Tugenden zu entwickeln, nämlich die der Entschlossenheit (adhittana). Beim ersten Mal tue ich mir sehr schwer, und nach etwa 30 Minuten fangen meine Beine an zu brennen; nach ca. 45 Minuten fühlen sie sich so an, als würden sie verbrennen. Die letzten 15 Minuten scheinen eine veritable Qual, da ich noch nie zuvor in meinem Leben eine Stunde lang mit verkreuzten Beinen dasitzen musste. Ich bin den Tränen sehr nahe vor Schmerz, und deshalb beiße ich meine Zähne zusammen und versuche, mich auf mein Atmen zu konzentrieren; dabei atme ich laut und schwer. Doch irgendwie schaffe ich es und ich höre endlich die Glocke (die das Zeichen dafür ist, dass eine Stunde vergangen ist). Ich fühle pure Erlösung. In diesem Moment denke ich, es würde mir nie im Leben gelingen, das drei Mal am Tag zu tun, und frage mich, ob es irgendjemand sonst so ähnlich ergeht wie mir; mir ist es schließlich nicht möglich, zu prüfen, was um mich herum geschieht oder mit jemand zu sprechen.
Es ist schon erstaunlich, wie unser Verstand arbeitet. Wann auch immer wir ein unangenehmes Gefühl haben, z.B. Schmerz verspüren, fühlt sich jede Sekunde, jede Minute wie eine Stunde an; und glückliche Zeiten scheinen so schnell wie ein Wimpernschlag zu vergehen.
Als wir an jenem Abend der Videoaufführung beiwohnen – die uns dabei helfen soll, das Gesamtkonzept besser zu verstehen, beginne ich, die Technik besser zu begreifen und fühle mich ein wenig sicherer, was die Bestimmtheit betrifft. Am nächsten Tag probiere ich sie wieder aus und ich fange an, so wie es Mr. Goenka erklärt hat, den Schmerz, den ich fühle, objektiv zu betrachten und nicht auf ihn zu reagieren; auf wunderbare Weise schaffe ich es diesmal, eine Stunde lang da zu sitzen, ohne zu leiden – natürlich fühle ich noch etwas Schmerz, aber das ist nicht mit dem ersten Versuch zu vergleichen.
Ich bin ganz schön überrascht, aber es funktioniert wirklich – je weniger ich auf den Schmerz reagiere, desto weniger stört mich er mich.
Dank der täglichen Übungen bemerke ich, dass mein Verstand immer ruhiger wird und dass es mir immer leichter fällt, mich zu konzentrieren und im Moment zu verharren, anstelle mich mit permanenten Gedanken über die Vergangenheit oder Zukunft zu quälen; Zukunft ist doch nur ein Traum über etwas, das noch nicht passiert ist und vielleicht auch nie geschehen wird, und die Vergangenheit ist etwas, was wir nicht mehr verändern können – und besteht nur aus Erinnerungen.
Am letzten Tag, am Tag 10, findet der schockabsorbierende Tag statt, was bedeutet, dass wir wieder langsam in die Realität eigeführt werden; und in der einen Hälfte des Tages ist es uns wieder gestattet, miteinander zu reden; auch unsere Handys bekommen wir wieder zurück. Es ist äußerst interessant, von den unterschiedlichen Erfahrungen der Meditierenden zu erfahren und erstmals davon, dass ich nicht die Einzige war, die kämpfte und dass es auch nicht jeder schaffte, über die gesamten zehn Tage das edle Schweigen einzuhalten. – Die Mehrheit der Frauen kommunizierte über die Hälfte des Kurszeitraumes.
Das ist nun auch der Tag, an dem ich begreife, warum uns dazu geraten wurde, das edle Schweigen einzuhalten; und zwar deshalb, weil man im Austausch mit jemand anders die Erfahrung der anderen in der Meditation erfährt; dann neigt man dazu, dasselbe erfahren zu wollen und sich während der Meditation eher damit zu beschäftigen. Wenn nämlich z.B. ein Zimmerkollege den freien Fluss der Energie erfährt, strebt man möglicherweise dieselbe Erfahrung an; genau dieses Bestreben ist während der Meditation jedoch kontraproduktiv.
In der zweiten Hälfte des Tages lernen wir über die Technik der selbstlosen Liebe (metta); da setzt man sich gemütlich auf den Boden und öffnet sein Herz der ganzen Welt, jedem Wesen, man teilt alle Liebe und Mitgefühl, das man in sich trägt. Während dieser Sitzung fühle ich, wie der Raum durch diese positive Energie heller wird, und wir hören Mr. Goenka noch ein letztes Mal sagen:
„Bhavatu Sarva Mangalam“, was so viel bedeutet wie: Mögen alle Wesen glücklich sein, und wir antworten darauf: „Sadhu“ – Ja, wir stimmen zu.
Der Kurs endet am Morgen des 11. Tages.
Anmerkung: Das nun folgende Video wurde am letzten Tag des Kurses im Meditationszentrum gedreht – an den anderen Tagen war es uns ja nicht gestattet, elektronische Geräte zu benutzen. Ich hoffe, es verschafft einen Einblick in die gesamte Umgebung und Stimmung.
Ich denke, das sind nun die wichtigsten Fragen, die für Euch von Interesse sind:
Habe ich dank des Kurses zu mir selbst gefunden?
Nein, das habe ich nicht. Ich glaube nicht, dass es darum geht, sich selbst zu finden; es geht vielmehr darum, sich selbst neu zu gestalten und ein neues Selbst zu kreieren. Ich fragte mich: „Wer möchte ich gerne sein“, „Möchte ich der Mensch sein, der sich schnell irritieren lässt, oder möchte ich viel lieber der Mensch sein, der Frieden und Harmonie ausdrückt?“. Sobald man weiß, wer man sein möchte und was es alles dazu benötigt, um dieses Ziel zu erlangen, kann man daran arbeiten.
Manchmal neigen Menschen dazu, sich selbst in einen Käfig zu sperren und zu glauben, dass ein Angsgefühl, z.B. Höhenangst (oder andere Ängste), für immer bestehen bliebe. Aber – NEIN.
Wir entwickeln uns ständig und haben in jedem Moment unseres Lebens die Chance, uns zu verändern – der Mensch, der ich vor fünf Jahren war (oder vielleicht sogar die Person, die ich letzte Woche war), der bin ich heute nicht mehr. Alles, was wir neu erfahren im Leben, verändert uns auf die eine oder andere Art. Ich bin persönlich davon überzeugt, dass wir aus jeder Erfahrung lernen können – egal ob sie gut oder schlecht gewesen ist.
Würde ich diesen Kurs wiedermachen?
Ja, definitiv. Ich kenne nun die Meditationstechnik und ich weiß, dass ich es an keinem anderen Ort als in dieser Umgebung geschafft hätte, 10 Tage lang zu meditieren. Man darf sich von einem 10-Tages-Kurs kein Wunder erwarten, nein, aber er lehrte mich, wie alles funktioniert; es liegt nun an mir, oder an jedem anderen, der diesen Kurs absolvierte, die Technik fortzusetzen – oder auch nicht. Es wird dazu geraten, täglich am Morgen und am Abend jeweils eine Stunde zu meditieren. Das scheint sehr viel Zeit zu sein, aber ganz ehrlich: Die Zeit verfliegt so schnell, während man meditiert, und man braucht insgesamt viel weniger Schlaf.
Wie waren meine Erfahrungen?
Im Großen und Ganzen hatte ich gute Erfahrungen und ich bin wirklich glücklich darüber, diesen Kurs gemacht zu haben; natürlich gab es frustrierende und schwierige Momente, denn 10 Tage sind schließlich ein großer Zeitraum. Wenn ich mal keinen Erfolg während der Meditation hatte, war ich enttäuscht und Gedanken wie: „Jetzt ist nicht der richtige Zeitraum, das durchzuziehen, ich komme in ein paar Monaten oder in einem Jahr wieder“, schossen durch meinen Kopf, aber ich wusste, dass ich mich da selber durchboxen muss – ich musste Bestimmtheit zeigen – da diese harte Arbeit Teil dieser Reise ist, und dabei frustriert zu sein ist genau das, was man vermeiden soll.
Die Sache, vor der ich am meisten Angst hatte, war der Teil des edlen Schweigens, aber ich muss ganz ehrlich sagen:
Ich genoss es sogar mit der Zeit, mit niemand zu reden; ich fühlte mich erlöst.
Und ich bin mir sicher, dass ich durch die Anwendung dieser Technik wundervolle Ergebnisse erzielen werde, z.B. ruhiger und geduldiger zu werden, meine Zeit besser zu nützen und mich besser zu konzentrieren.
Durch die Vipassana-Methodik und dadurch, welch positiven Wandel sie mir beschert, fühlt meine Umgebung die Resultate – ich strahle einfach überall Harmonie aus. Es ist so, als ob jemand lacht – die anderen Menschen werden diese positiven Vibes spüren – und sie werden sich dadurch glücklich fühlen.
Mein Ratschlag: Wenn du dir etwas Gutes tun willst, etwas, was ganz anders als alles andere ist und eine Zeitlang abschalten möchtest – und nur die Natur genießen und Zeit mit dir selbst verbringen möchtest, dich um nichts sorgen möchtest – dann probiere diesen Meditationskurs aus. Der eine oder andere positive Effekt wird dadurch mit Sicherheit eintreffen; und selbst wenn du das Ganze nicht magst:
Das Schlimmste, was dir dabei passieren kann, ist, dass du 10 Tage lang kein Sklave deines Handys bist – und Hand auf’s Herz: Was ist daran schlecht?
Namaste und Bhavatu Sarvu Mangalam
Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen
cooler Bericht! THX
Wirklich interessant,cool,bravo,Erfahrungen die man im Leben nicht mehr vergisst! Grüsse,mach so weiter Rudi