Worum geht es bei Ängsten denn wirklich?

View over Rohtang pass
Lebenswelten

Jeden Morgen beim Aufwachen habe ich einen atemberaubenden Blick über die Berge. Es sind genau jene Berge, die wir mit dem Motorrad überqueren wollen – der Rohtang-Pass, 3978 Meter hoch. Der Name des Passes bedeutet wörtlich „Leichenstapel“, weil es hier früher, als die Straßen in schlechterem Zustand waren als heute, gelegentlich vorkam, dass Menschen durch widriges Wetter festsaßen und dann erfroren oder verhungerten.

Hier, vom Schlafzimmerfenster aus, sehen diese Berge extrem hoch aus, schön, aber auch furchterregend. Ich frage mich:

Wie werden wir es schaffen, sie zu überqueren, wie wird das sein? Ist der Name wirklich gerechtfertigt oder nur eine Übertreibung?

Unglücklicherweise wird diese großartige Aussicht schon gegen acht Uhr morgens durch Monsunwolken und Regen verhüllt.

Aussicht über den Rohtang-Pass

Während wir darauf warten, dass die Monsunzeit vorübergeht, klappern wir alle Motorradgeschäfte der Stadt ab, um das mit dem besten verfügbaren Angebot und Service zu finden. Nach einer Weile finden wir eines, das passt, aber der Besitzer macht uns ein bisschen Angst:

Er sagt, dass wir den Trip nicht auf eigene Faust unternehmen sollten; es wäre besser, sich einer größeren Gruppe anzuschließen oder sogar mit einem Jeep nach Leh zu fahren, denn es könnte Eis auf der Straße sein, wir könnten eine Reifenpanne haben und es gäbe noch weitere Gefahren, mit denen wir konfrontiert werden könnten.

Enttäuscht und ziemlich verwirrt verlassen wir den Laden und gehen in die Stadt, um warme Kleidung für unsere Fahrt zu kaufen, wie Skihosen, Schals, wasserfeste Schuhe, Handschuhe etc. Während unserer Shoppingtour treffen wir weitere Menschen, und alle sind ziemlich laut und fragen uns, wohin wir wollen. Wieder machen sie uns „Angst“ und erzählen uns dasselbe wie der Motorradmann: Fahrt nicht alleine, es ist zu gefährlich, es ist gerade ziemlich kalt etc.

Während wir heimgehen, reden wir nicht wirklich miteinander, weil wir beide darüber nachdenken, was uns die Einheimischen gesagt haben. Ich muss sagen, dass ich an diesem Punkt wirklich Bedenken habe, denn normalerweise wissen es die Einheimischen immer am besten und sagen, wie die Dinge wirklich sind.

Zurück im Hotel, beginne ich eine gründliche Recherche über den Manali-Leh-Highway, die Schwierigkeiten, die Schönheit, die Gefahren und auch darüber, was man dort braucht. Nach Beendigung dieser Arbeit fühle ich mich besser, und auch wenn ich mir der Gefahren bewusst bin und weiß, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, bin ich mir jetzt zu 100 Prozent sicher, dass ich dazu bereit bin.

Während dieser Nacht denke ich viel über Angst nach und frage mich: Worum geht es wirklich bei der Angst?

Angst ist nicht etwas Angeborenes, vielmehr ist es etwas Imaginäres, nicht existent, wenn man so sagen will, etwas, was wir in unserem eigenen Verstand aufgebaut haben aus vergangenen Erfahrungen, unserer Gesellschaft, dem Einfluss der Menschen, die uns umgeben, oder aus dem, was wir in den Nachrichten gesehen haben.

Weiterhin sage ich mir: Selbst wenn die Einheimischen die Dinge besser kennen, sind sie doch auch in vielerlei Hinsicht anders als wir – jeder hat eine andere Ansicht davon, wie gefährlich eine Sache wirklich ist und wo die eigenen Grenzen liegen. Es ist nicht immer schwarz und weiß, manche Leute werden von einer Maus zu Tode geängstigt, die andere als das süßeste Ding der Welt ansehen.

Wenn ich mich nicht entschieden hätte für: „Ja, ich will das machen“, dann hätte ich mich immer gefragt: „Was wäre, wenn?“, und wäre mit dieser Entscheidung dann auch nicht glücklich gewesen. Glaub nicht immer, was die Leute sagen; höre ihnen zu, denk darüber nach, wäge es ab, und dann triff deine eigene Entscheidung. JETZT ist die Zeit, um die Dinge zu machen, denn es gibt nicht immer ein: „Ich mache das irgendwann in meinem Leben, nächstes Jahr oder so“!

Am Morgen gehen wir noch einmal los, in besserer Stimmung als am Vortag, um noch einige von den Dingen zu besorgen, auf die ich durch meine Recherche aufmerksam geworden bin;  zum Beispiel eine tragbare Sauerstoffflasche (weil wir in großer Höhe unterwegs sein werden und es dort an medizinischen Versorgungsstellen mangelt), Motorrad-Schutzkleidung für den Oberkörper, Ellbogen- und Knieschützer, eine Maske für das Gesicht, extra Medikamente etc.

Als wir zurückgehen, kommen wir an einem Motorradladen vorbei und sehen „DAS Motorrad“: eine Royal Enfield (eine alte britische Marke, die gerne für diese Art von Touren benutzt wird), 10 Jahre alt, 500 Kubik, türkis lackiert.

Angelo, DAS Motorrad

Man kann fühlen, dass es eine „Seele“ hat, dass es einiges durchgemacht hat, und es fühlt sich fast an, als spreche es zu uns. Irgendeine Kraft zieht uns zu ihm hin, und sofort gehen wir es uns näher anschauen. Während einer Probefahrt scheint es sogar noch perfekter als zu Beginn; der Klang ist irre – wie eine schnurrende Katze.

Nur um einen Vergleich zu haben, probieren wir noch ein anderes Motorrad aus, eine ganz neue Royal Enfield – es ist auch toll, aber irgendwie „zu perfekt“ – wenn ihr wisst, was ich meine! Obwohl das neue und das alte genau das selbe kosten, mieten wir sofort das alte und nennen es „Angelo“, das italienische Wort für „Engel“.

Um das zu feiern, gehen wir in einem italienischen Restaurant essen und bereiten uns mental darauf vor, morgen in aller Frühe loszufahren…

Ich kann’s kaum erwarten.
Gute Nacht!

Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake

Credits

Image Title Autor License
Angelo, DAS Motorrad Angelo, DAS Motorrad Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0
View over Rohtang pass View over Rohtang pass Isabel Scharrer CC BY-SA 4.0

Diskussion (Ein Kommentar)

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