Wir verdummen, weil wir überfordert sind

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Meinung

Man muss nur einen Blick auf die Praktiken des Römischen Reichs werfen, um zu verstehen, dass Brot und Spiele ein verlässliches Rezept sind, um Menschen am Benutzen ihrer Köpfe zu hindern. Macht man brauchbare Bildung dann noch von den finanziellen Möglichkeiten (und damit de facto von der Herkunft) abhängig, so hat man die perfekte Unterschicht, die in ihrem Zustand verfangen ist, ohne ihn zu erkennen.

Das Rezept ist seit damals ungebrochen von der jeweils herrschenden Klasse angewendet worden und hat selbst den Sturz der Aristokratie (seltsamerweise) unbeschadet überstanden; sei es aus Trägheit, oder – ein hässlicher Gedanke – weil auch die demokratisch gewählte Regierung unserer Tage keine allzu mündigen Bürger will. Das Angebot an Ablenkung ist jedenfalls – nicht zuletzt deshalb, weil wir seine vergnüglichen Ausprägungen so willig annehmen und die lästigen Seiten so widerspruchslos akzeptieren – größer und facettenreicher denn je …

Sensationsnews

In Zeitungen, Nachrichten und neuen Medien werden unzählige Botschaften mit gleicher Relevanz übermittelt. Die Verleihung von Popkulturpreisen kommt auf die Titelseite, Umsturz und Bürgerkrieg in fernen Ländern ist höchstens eine Randnotiz; als hätte es nichts mit uns zu tun, dass verschiedene Stämme einander mit Waffen auszurotten versuchen, die sie von uns beziehen, und über Land streiten, auf dem sie für uns Früchte, Viehfutter oder Drogen anbauen – während die eigene Bevölkerung verhungert.

Neben all dem Klatsch, den Sensations- und Unterhaltungsmeldungen, den morbid-voyeuristischen Meldungen über Familiendramen und den Produktplatzierungen bleibt ohnehin nichts Relevantes in unserem Bewusstsein hängen, Nebensächlichkeiten verbrauchen unsere ganze Kapazität.

Werbung

Der Verstand wird uns zugekleistert mit pausenlosen Werbebotschaften, die wir weder meiden noch ignorieren können. Wo wir hinsehen, sind Plakate, Bildschirme, Werbebanner, bedruckte Vehikel und selbst noch anderer Leute Kleidung. Dazu läuft vielerorts das Radio, eine pausenlose Vergewaltigung unserer Sinne.

Allgemein-Unbildung

Schulen bringen uns bei, lästiges Nachfragen zu unterlassen und Fakten auswendig zu lernen, anstatt Informationen zu beurteilen, selbstständig zu denken und die Freude am Lernen zu behalten.

Zusätzlich werden die Kinder (als Vorbereitung auf das Leben) ständig unter Druck gesetzt. Begabte werden einerseits nicht gefördert und resignieren über kurz oder lang aus Langeweile, während auf Nachhol- und Förderbedarf von Kindern mit Lernschwächen, privaten Schwierigkeiten oder schlichtem Widerwillen gegen einzelne Fächer (was meist am Unterrichtenden liegt) ebenso unzureichend eingegangen wird. Die offensichtlichste und vernünftigste Methode – modulares Lernen – scheint in weiter Ferne zu liegen. Alle bleiben so auf der Strecke.

Entwicklungsstopp

Es gibt keinerlei Unterstützungen für Menschen über 35, die studieren wollen. In einer Zeit, wo wir zum Zeitpunkt der ersten Ausbildungsentscheidung (wenn wir die momentane Richtung beibehalten) vermutlich noch fünfzig Arbeitsjahre vor uns haben und ungelernte Kräfte nicht mehr gebraucht werden, ist das blanker Wahnsinn.

Überforderung

Ein Übermaß an Auswahl stresst uns. Brauchen wir wirklich zwanzig verschiedene Joghurtsorten und -marken im Regal? Unser Hirn ist mit den zahllosen, großteils vollkommen irrelevanten Entscheidungen überfordert.

Wir sind ständig erreichbar und haben ständig ein halbes Auge auf das Handy gerichtet. Wie man sich auf ein Thema wirklich konzentriert, wissen die meisten von uns gar nicht mehr.

Spiele wie Candycrush Saga oder Farmville (inzwischen vermutlich schon mehrfach von anderen Titeln mit dem gleichen Prinzip überholt), die das Belohnungszentrum dauerstimulieren und letzten Endes zu Suchtverhalten führen, tun ihr Übriges.

Trivialität

Hierzulande zahlen wir für ein Fernsehprogramm, das offiziell einen Bildungsauftrag zu erfüllen hätte, und doch wird das gebotene Programm seit Jahren immer seichter. Reality-TV hat seinen Siegeszug auf der ganzen Welt angetreten. Kein Wunder, dass wir das Wort „Fremdschämen“ erfinden mussten.

Auch und gerade in der Politik werden Nebensächlichkeiten aufgeblasen, während wesentliche Themen untergehen. Eine wirklich tiefe Grundsatzdebatte findet nicht statt, obwohl sie um Jahre überfällig ist.

Pflichtenlawine

Wir haben ständig zwanzig Dinge auf der To-do-Liste. Alles ist schneller und einfacher geworden – mit dem Ergebnis, dass von uns erwartet wird, viermal so viel wie früher in der gleichen Zeit zu tun.

Mails checken und beantworten, Freundschaftspflege via sozialer Plattform, online einkaufen, Bürgerkarte anmelden, Stromanbieter wechseln, Internettarif ändern, Überweisungen, Recherchen … es nimmt kein Ende. Und dazu kommen noch jene Dinge, die weiterhin in der realen Welt auf Erledigung warten.

Müll im Hirn

Wir haben zu viel Trivialwissen gespeichert. Die Namen von einer riesigen Schar von Schauspielern und sonstiger Prominenz, Tausende Markennamen samt Aussehen von Produktverpackungen, die Handlung zahlloser Filme und Serien. Wobei Letzteres zumindest noch das Vergnügen beinhaltet, uns Geschichten zur Verfügung zu stellen, die wir im Geiste wieder und wieder erleben können.

Krempel

Wir horten viel zu viele Gegenstände, die wir nicht wirklich brauchen. Ihre Pflege, ihr Platzbedarf und die Fesseln, die sie uns durch Verlustängste anlegen, machen uns ärmer als wir wären, wenn wir nichts besäßen. Kein Wunder, dass radikales Ausmisten sich so befreiend anfühlt.

Wir müssen uns von unserer Sammelwut befreien und lernen, uns in jeder Hinsicht auf Wesentliches zu konzentrieren und zu reduzieren.

Das System ist auf den Status quo eingespielt, die Politik hat vor einigen Generationen von der Aristokratie unmündige Bürger geerbt und weiß somit, wie man unmündige Bürger handhabt.

Das Experiment, eigenständigere, kreativere Menschen mit höherer Grundbildung aus den Schulen zu entlassen, auch Erwachsenen jederzeit den Zugang zu ernsthafter Weiterbildung zu ermöglichen und das Niveau der Medien massiv nach oben zu regulieren, wagt daher niemand – obwohl alle Zeichen unmissverständlich darauf hinweisen, dass nur informierte, selbstständig denkende und gebildete Personen in Zukunft Beschäftigung finden werden.

Jedoch würde ein solcher Paradigmenwechsel mit Sicherheit gewaltige Veränderungen mit sich bringen – und dagegen sind wir hier auf der Insel der Seligen noch viel allergischer als anderswo.

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Diskussion (2 Kommentare)

  1. Großartig! Scharf und gut Beobachtet ….Dem ist nichts hinzuzufügen außer: auch das Propagandawesen ist noch geschäftsmäßig organisiert.
    Wie weit könnten wir sein wenn wir tatsächlich eine Kultur der Arbeit und des Verstehens beibehalten hätten? Sicherlich weit jenseits der Wirtschaft!
    Hat das alles den Charakter einer großen Verhinderung, weil wir längst die Technologie hätten, auf Wissen und Automation basierend, uns selber angemessen zu versorgen? Fast scheint es so.
    Und ja, es scheint dass den unsichtbaren Verführern niemand mehr entkommt. Ich beobachte an mir selbst, dass es ein Riesenaufwand ist, sich bewusst zu werden was einen da ständig mit Surrogaten von Befriedigung beriesellt, und dass in dem Moment, wo jeder nur mehr Mist produziert, die Herstellung von Vernunft eine Herkulesaufgabe geworden ist.

    1. Vielen Dank! Stimmt, leider hinken wir unserem kollektiven Potential bestürzend weit hinterher; und doch sehe ich in der wachsenden Gemeinde von friedlichen Querulanten mehr Hoffnung als je zuvor. Immer mehr Menschen sehen, dass es nicht so sein müsste wie es ist. Letzten Endes, und das ist das Schöne, spielt es für den Ausweg aus der Misere keine große Rolle, wieviel Lenkung wirklich stattfindet. Das Mittel gegen alles Elend auf der Welt ist ungeachtet der Gründe und Mechanismen die es perpetuieren immer das Gleiche: Wir müssen im Kleinen wie im Großen als Menschen zusammenfinden und verstehen dass wir alle verantwortlich für einander sind. Das bedeutet sowohl Hilfe, als auch friedliches, aber entschlossenes Eingreifen wo andere ihre Menschlichkeit vergessen. Erst wenn genug von uns wieder mitfühlen, wenn wir uns den relevanten Werten zukehren und die Surrogatbefriedigung links liegen lassen, wird sich etwas ändern können..