Missverstandene Esoterik

Seifenblase in der Sonne
Meinung

Eso-Bullshit

Viele New Age-Ideen und viele andere niedergeschriebenen spirituellen Erkenntnisse haben absolut ihre Berechtigung, manche davon werden vollkommen missverstanden und andere sind tatsächlich gefährlicher Nonsens. Die Weigerung der wissenschaftlichen Gemeinschaft, hier die Spreu vom Weizen zu trennen und dem Unfug ein Ende zu setzen und andererseits die eigene Position zu überdenken, spricht Bände über die Spaltung und gegenseitige Ächtung der beiden Weltbilder.

Nur wenige erkennen die Überlappungen; der Großteil der Menschen driftet – sehr zu unser aller Schaden – unbeirrbar in die eine oder andere Richtung ab und weigert sich daraufhin, der anderen Seite jemals wieder zuzuhören.

Beide Seiten sehen eine vereinfachte Welt, in der wichtige und zutreffende Elemente der jeweils anderen Sichtweise ausgeklammert sind, und beide produzieren in ihrer Selbstgefälligkeit Fanatismus und gewaltige blinde Flecken auf der geistigen Landkarte ihrer Anhänger. Werfen wir heute einen Blick auf einen wirklich schädlichen Aspekt der New Age-Lehre:

Ich selbst erschaffe meine Realität (Oder auch: Ich mach‘ mir die Welt, wide-wide wie sie mir gefällt…)

Denkt man diese Ansicht bis in die letzte Konsequenz durch, entpuppt sie sich schnell als eine der schlimmsten denkbaren Irrlehren (mit einem Körnchen Wahrheit, wie es sich für wirkungsvolle Halbwahrheiten gehört).

Der wahre Kern

Denn natürlich trifft es zu, dass unser Hirn auf Mustererkennung ausgelegt ist und stets nach Bestätigung des Bekannten sucht. Ebenso richtig ist, dass unser Bewusstseinszustand Einfluss auf die Umgebung hat, egal ob man dies nun durch Ausstrahlung und Wirkung auf andere, durch Quanteneffekte oder Synchronizität erklären will.

Somit färbt sich ziemlich sicher nicht nur das subjektive Erleben, sondern tatsächlich auch die objektive Wirklichkeit dunkler, wenn ein Mensch NUR das Negative sieht. Für die eigene geistige Stabilität ist es also auf jeden Fall besser, die schönen, guten und tröstlichen Dinge besonders zu betonen, möglichst viel von ihnen zu erleben und sie stets im Bewusstsein zu halten.

Die Prise Bullshit

Daraus allerdings zu schließen, dass äußere Probleme, nur weil wir ihnen in unseren Gedanken weniger Raum geben, tatsächlich weniger real, pressend und wichtig werden, ist ein gigantischer Trugschluss. Studien belegen ganz klar, dass depressive Menschen ihre Lage realistischer einschätzen als Optimisten. Es ist somit eher eine Frage des Grades an Verdrängung, wie rosafarbig und unbedrohlich man sich die Weltlage denken kann – nicht umgekehrt eine krankhafte Obsession mit Negativität, wenn man es nicht schafft.

Dass die Hilflosigkeit der Realisten angesichts der erkannten Lage und die Verzweiflung über den allgegenwärtigen salbungsvollen Ratschlag, sich nicht für Dinge verantwortlich oder davon betroffen zu fühlen, die man (angeblich) nicht ändern kann, oft sogar genau der Auslöser für die Depression sein könnte, kommt dabei niemand in den Sinn.

Bullshit für Fortgeschrittene

Doch der Vorwurf geht noch weiter: Wer ein Übel beim Namen nennt (= negativ denkt), ziehe es damit nämlich an und schenke ihm Energie. Versuche also nicht, auf Unrecht hinzuweisen, sonst rufst du mehr davon herbei. Was für eine perfekte Verdrehung, die aus der Feuerwehr den Brandstifter machen will.

Und wenn es doch stimmt?

Der berühmte Realitätstunnel, der durch Erwartungen eine Welt schafft, taugt als Modell nur bedingt, denn nach diesem Postulat müsste jeder von uns sich tatsächlich in einer abgetrennten Realitätsblase befindet und durch Ignoranz verhindern können, dass stattfindende Ereignisse ihn betreffen.

Die relevantere Frage ist: Was sind die Folgen, wenn es nicht stimmt?

Freilich kann man, philosophisch gesehen, nicht ausschließen, dass jeder Mensch sich in seiner persönlichen kleinen Matrix befindet und Artensterben, Klimawandel, Flüchtlingsströme und Hunger in der Bubble anderer Leute tatsächlich nicht stattfinden.

Vielleicht ist jeder für sich ein Universum auf der Reise durch den Möglichkeitenraum und kann sich aussuchen, ob er auf eine Blumenwiese oder ein Dornengestrüpp zusteuert. In diesem Sinne ist es sicher interessant und sinnvoll, an der eigenen geistigen Disziplin zu arbeiten und zu beobachten, wie viel Unterschied das macht – nach außen hin allerdings auf Grundlage dieser Annahme zu handeln (oder es vielmehr zu unterlassen), als ob sie gesicherte Tatsache wäre, ist vollkommen absurd und verantwortungslos.

Ruhiggestellt

Zwei Probleme ergeben sich daraus: Zum einen sind im Pool der Realitätsverweigerer viele wohlmeinende und liebevolle Menschen (deren Wirken in der Realität gerade bitter nötig wäre) in kollektiver Blindheit vereint und nehmen daher an den zukunftsweisenden Prozessen und Entscheidungen nicht teil, die mit immer rasanterer Geschwindigkeit unseren Weg festlegen. Sie überlassen das Feld kampflos den Materialisten und schicken allenfalls gelegentlich positive Energie durch Weihrauch und Kerzen.

Zu glauben, dass spirituelle Aktion ohne Entsprechung in der materiellen Welt etwas bewege, ist jedoch der gigantischste und perfideste Haufen Müll, den Menschen je zu glauben bereit waren. Wer solchen Unsinn verzapft, verdammt alle, die ihm Glauben schenken, zu Inaktivität und Wirkungslosigkeit.

Vorwurfsvoll

Zum anderen schlägt die Esoterik-Szene dadurch in die gleiche Kerbe wie auch die Psychologie, die zwar teils gute Arbeit leistet, teils aber Probleme vertieft und an der Ausgrenzung von Andersdenkenden beteiligt ist.

Wer angesichts der wachsenden Ungerechtigkeit, Armut, Gewalt, Umweltverschmutzung, Überwachung, Radikalisierung, Korruption usw. aufschreit und andere zur (friedlichen!) Aktion bewegen will, wird somit vom Mainstream für einen radikalen Spinner gehalten, von der Esoterik-Szene für einen Menschen, der negative Energien verbreitet und daher unbedingt zu meiden ist, und von der Psychologie für einen behandlungsbedürftigen Gemütskranken.

Keines der drei Lager sieht einen Grund, diese Einstellung zu überdenken, da sie ja von jeweils zwei anderen Denkschulen bestätigt wird. Die kollektive Verdrängung wird weitergeführt und geschützt – und zwar am eifrigsten genau von jenen, die in vieler Hinsicht den Schlüssel zur Veränderung in der Hand hätten.

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Seifenblase in der Sonne Seifenblase in der Sonne Martin Fisch CC BY 2.0