Weißt du eigentlich, was wirklich abgeht?

Better hypothesizing than leaving an empty space.
Soziales

Im ersten Teil sprach ich ausführlich darüber, wie schnell man sich selbst in einem sogenannten Selbstlügenkonstrukt verfangen kann und wie gut es doch wäre, zusätzlich Experten um ihre Meinung zu einer Sache zu befragen, die uns schwer beschäftigt und deren Wahrheit wir doch recht gerne vollständig in Erfahrung bringen wollen würden.

Ein weiterer Schritt, um Konfliktthemen genauer zu durchleuchten: Man bilde Hypothesen. Mutmaßungen. Das sind Aussagen, die wahr sein könnten – aber nicht wahr sein müssen. Und da bewegt man sich in eine Richtung von Wahrscheinlichkeiten. Hypothesen sind wichtig für spätere Theorien, die wissenschaftlich haltbar werden.

Hypothesen in der Zeitung

Gellendes Geschrei, wie man es z.B. anlässlich der jüngsten Attentats- und/oder Amokvorfälle in den Social Media Netzen in totaler Hysterie geschrieben und „brüllend gedacht“ lesen konnte, sehe ich anlässlich manchmal etwas unausgereifter Nachrichten in den Zeitungen als unnötig. Wurde, um bei diesen Beispielen zu bleiben, in Zeitungsberichten das Geschlecht eines potentiellen Täters definiert, oder gar die Religion, so unterstellte man gleich einmal „Hetzpropaganda“ bzw. Diskriminierung. Dabei haben Polizisten und Kriminalisten in den (Online-)Nachrichten in erster Instanz zu den Fällen bloß Stellung genommen sowie ihre ersten Mutmaßungen geäußert. Wir Bürger wollen doch schließlich auch schnell informiert werden! Das Problem sehe ich also gar nicht grundsätzlich darin, dass Informationen heutzutage so schnell verbreitet werden können, sondern vielmehr im Umgang des Lesers damit.

Das bedeutet, dass wir sehr wohl die Verantwortung dafür übernehmen können, was wir wo lesen und wie schnell wir die Information als Wahrheit für uns interpretieren.

Es sollte uns einfach eines klar sein …

Die ersten Stellungnahmen zu Vorfällen können noch nicht die absolute Wahrheit darstellen. Was so viel heißt: Am nächsten Morgen gibt es natürlich neue und weitere Daten, in einer Woche noch mehr und die komplette Wahrheit oder das absolut Naheliegendste erfährt man erst sehr viel später.

Das erfordert längeren (Leser-)Atem! Sind wir etwa zu kurzatmig geworden? Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut, und die Wahrheit haben wir ebenso nicht gleich im Sack – und das auch noch binnen einer Stunde?! Auch wenn uns das gesamte Weltgeschehen und alles damit verbundene Übel so nahe scheint, weil die Dinge nun eben in Europa passieren, wir uns zwangsläufig emotionalisieren, uns in die Lage der Opfer hineinversetzen (können), wäre es gleichermaßen klug, uns keine strengen, plötzlichen Schuldzuweisungen (Polizei, Politiker) anzumaßen und sie halt- und gedankenlos rauszubrüllen; schon gar nicht am ersten Tag der Nachricht via schnellinformativer Kanäle oder Facebook und Twitter. Es ist wohl Zeit, damit aufzuhören, auf die Schnelle nur einen Schwarzen Peter hervorzuzücken, um uns aufzuschaukeln aber gleichzeitig unser eigenes Gewissen zu beruhigen. Bleiben wir doch lieber bei den Fakten:

Fakten

Wie kann man sich selbst sein bester Assistent sein in Sachen Wahrheitsfindung? Man stelle sich vorerst die folgenden Fragen:

  • Was ist passiert?
  • Wie ist es passiert?
  • Wann ist es passiert?
  • Wem ist es passiert?
  • Wo ist es passiert?
  • Warum ist es passiert?
  • Wer hat das getan?

Wer diese 7 Fragen mal beantworten kann mithilfe sämtlicher seriöser Quellen, und das so neutral wie möglich, ist der Lösung schon etwas näher. Man bedenke dabei: Oft können wir aber gar nicht so neutral sein, wie wir es eigentlich wollen:

Unsere persönlichen Hypothesen sind „unsere“ Hypothesen – und nicht jene von Experten

Während Experten – z.B. im Falle der zuvor erwähnten Attentate und Amokläufe – auf einen enormen Erfahrungsschatz und ein Wissen zurückgreifen können, von dem wir nur träumen können, gehen wir wie Hobbypsychologen und -detektive doch nur rein von unseren eigenen wenigen Erfahrungen aus: Wir beobachten Menschen oder Personengruppen, überlegen uns ihre Persönlichkeit und ihr Verhalten (das sind doch immer nur Spiegelungen aus unseren eigenen Erfahrungen), kombinieren dazu ihren Stil der Kleidung, die Sprache der Mimik sowie ihre Körperhaltung und leben so in unserer eigenen, oft kleinen Wahrnehmungswelt. So etwas nennt sich: Alltagshypothesen aufzustellen. Alltagshypothesen haben durchaus ihren Sinn, wenn es sich z.B. um Sonnenbrände, Wetter oder Ernährung handelt. So können wir uns täglich vor Gefahren schützen oder dafür sorgen, besser und gesünder zu leben. Sie taugen also für Entscheidungen und Prognosen als Basis bei gewöhnlichen Ereignissen.

Befinden wir uns allerdings in einer Krise der besonderen Art, lassen uns gerne unsere eigenen Erfahrungen im Stich. Hinterfragen wir also unsere Eigenwahrnehmung nicht kritisch, bemerken wir es vielleicht gar nicht, wenn beim Nachbarn Ungewöhnliches passiert, wenn Kinder im Keller beispielsweise versteckt sind, oder wenn eine ganze Familie missbraucht wird von einem einzigen Übeltäter. Das geht wohl über unseren eigenen Vorstellungshorizont hinaus. Wer selber niemals gräulicher Täter war, kann solche Taten auch sehr schwer nachvollziehen. Und dadurch neigen wir dazu, deutliche Warnsignale in unserem Umfeld zu überhören bzw. sie zu missinterpretieren.

Kennst du deinen Nachbarn?

Werden wir aufmerksam, wenn ein Kind länger schreit?  Hören wir weg? Befassen wir uns damit, was sich im direkten Umfeld abspielt? Man kann sehr wohl sein Bewusstsein schärfen, zuhören und zusehen. Wir wollen die Welt verändern? Dann fangen wir doch im Kleinen an, mischen uns quasi ein, erkundigen wir uns bei den Nachbarn, wie es ihnen geht – v.a. wenn uns mal nachbarliche Umstände bizarr erscheinen (wenn der Nachbar z.B. schon länger nicht mehr das Haus verlassen hat; oder wenn ständig bei ihm zu Hause das Licht brennt etc.). Es kann nämlich sein, dass es unseren Nachbarn so gar nicht gut geht und wir nur verwöhnt darüber hinwegsehen – weil es uns ja selber gut geht.

„Geht mich doch nichts an!“

Diese Einstellung ist mit Sicherheit asozial – und vergesst bitte nicht: Wollt Ihr, dass man über Euch auch so denkt? Achja, bei Themen im TV, die die Welt betreffen, da brüllen wir unsere Sorgen hinaus? Da mischen wir uns plötzlich ein, selbstgerecht, da suchen wir die großen Täter, während unser eigenes kleines Umfeld wohl gar nicht so einfach bewältigbar scheint … Wenn ich jetzt streng wäre, würde ich sagen: Alltagsscheinheiligkeiten sind das, mehr nicht.

Wer sich nicht mal um seinen Nachbarn schert, dem nehme ich auch diese großen Gefühle von Welt nicht ab.

Gefährliche Missinterpretationen

Dass es uns teilweise gar nicht möglich ist, nachzuvollziehen, wenn sich eine Gefahr in unserer direkten Umgebung breit macht, liegt anscheinend daran, dass wir die Zeichen der Gefahr simpel missinterpretieren. Ich habe mal wo gelesen, dass eine Frau getötet wurde – ein wahrer Kriminalfall sozusagen – die Frau stieß schrille Todesschreie aus über einen längeren Zeitraum; ein Passant der direkten Umgebung, der die Familie sogar kannte, deutete die Signale der Gefahr aber völlig falsch: Er brachte für sich nur seine eigenen Erinnerungen ins Spiel und gab deshalb bei der Polizei an, dass er dachte, die Frau hätte lediglich an einer Kolik gelitten. Die Schreie erinnerten ihn ausschließlich an diese eine Variante – an Gefahr dachte der Mann dabei nicht.

In Ermangelung an Lebenserfahrung geschieht es also sehr wohl, dass Ursachenerklärungen völlig falsch interpretiert werden können. Es passiert dabei automatisch eine gedankliche Verknüpfung der eigenen Wahrnehmung mitdem eigenen Erfahrungswissen. Unsere ersten Gedanken sind also simpel schema-geleitet. Unser stereotypes Denken führt zu einer falschen Hypothesenbildung und wir befinden uns in einer fiktiven sozialen Realität mit – in vielen Fällen – dramatischen Folgen.

Wäre in diesem Fall der Passant selbstkritisch vorgegangen, hätte er auch andere Hinweise beachtet: Die ungewöhnliche Uhrzeit z.B., als die Dame schrie.

„Wir haben doch nicht damit gerechnet, dass jemand in Gefahr war.“

Eine übliche Aussage, die Kriminalisten sehr oft von Zeugen gesagt bekommen. Hätte man das mit Experten besprochen, dann hätten diese sehr wohl die unmittelbare Gefahr erkannt und demnach komplett anders gehandelt.

Wichtig ist es also, im Leben eine sogenannte Bedingungskontrolle anzugehen und sich zu fragen: „Ist etwas nicht in Ordnung?“

Der kreative Prozess der Hypothesenbildung muss also häufig und intensiv bewältigt werden – die Lösungsmöglichkeiten müssen demnach gedanklich entwickelt werden. Menschen haben grundsätzlich leider keine ausgeklügelten, empirisch abgesicherten Methoden zur Verfügung.

Dieses Manko ist der wesentliche Grund dafür, dass wir uns im Alltag so oft irren und noch viel öfter falsche Entscheidungen treffen. Es scheint uns nicht sehr bewusst, wie reich die Chronik der menschlichen Unzulänglichkeiten doch ist.

Fortsetzung folgt, liebe Leser – handelt es sich doch um ein äußerst spannendes Thema 🙂 !

Eure passioniert lösungsorientierte Anna D.!

 

 

 

 

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Lieber eine kühne Hypothese, als ein leerer Raum. Lieber eine kühne Hypothese, als ein leerer Raum. 1 CC-BY-SA

Diskussion (4 Kommentare)

  1. experte für eh fast alles, bezahlt und meist mit sehr engem denkschema, und einer geistigen größe die nicht höher als ein tellerrand ist. gut trainiert und abgerichtet an unis die schon lange nicht mehr forschen…die aufzählung lässt sich endlos fortsetzten. ich vertraue meinem gehirn, ich habe es ausgebildet, ich habe es mit erfahrung gestopft, ich bezahle es, ich versorge es, ich schenke ihm alle freiheit dieses universums,….sorry expertenrat hole ich mir selbst wenn ich ihn brauche bei echten gebildeten und weisen menschen. aber ich brauche keine experten die überall herumposaunen,…das ist so durchschaubar. diese geistigen würmchensklaven. Ok viele menschen sind wirklich dumm

    1. Da hast du schon recht. Schön auch kritisch bleiben bei sogenannten „Experten“. Aber Hinweise sind immer interessant. Und sind Lügen im Spiel, dann kommen sie eines Tages raus. Ich habe auch immer gedacht, mein Hirn funktioniere so gut. Ich sehe immer noch Entwicklungsbedarf. Es wird wohl ein lebenslanges Lernen sein, und das empfinde ich als etwas Schönes. Und ich lasse mich gerne inspirieren von Dingen, die mir logisch und „gutartig“ scheinen. So bewahre ich mich davor, mich in einem Verschwörungshexenkesselgedankenkonstrukt zu verfangen. Vertrauen muss man einmal. Und dann sieht man eben weiter….

  2. Zu diesem Thema wird es vermutlich sehr viele Meinungen geben.
    Das Problem bei uns ist, dass wir gerne wegsehen um nicht mit Dingen, die da ablaufen, in Zusammenhang gebracht werden.
    Zivilcourage kennen die meisten nur aus Medien Berichten.
    Und viele schweigen oder sehen weg, weil sie Angst haben, wenn sie sich einmischen. Es wäre aber so einfach. Umdrehen und Polizei zu verständigen. Erst wenn man selbst in Not ist, dann schreit man um Hilfe und erwartet diese auch. Vielleicht sogar von den Personen, bei denen man wegsah.
    Nachbarschaftshilfe ist sehr selten geworden. Wer läutet denn schon beim Nachbarn an, wenn man ihn bereits zwei, drei Tage nicht gesehen hat. Wir leben alle in unserer eigenen Welt und keiner hat mehr Zeit für andere. Es wird ja nicht mal mehr gegrüßt, wenn man sich zufällig im Stiegenhaus begegnet. Erst wenn es aus einer Wohnung „stinkt“, dann ruft jemand die Hausverwaltung an.
    Früher war es schöner, man hat miteinander gesprochen und wenn erforderlich auch geholfen.

    1. Wie recht du hast. Erst gestern diskutierte ich, wie ich es niemals verstehen werden kann, wenn Menschen sich einfach umdrehen, weghören und so tun, wenn da gerade auch nur Geringes im Gange ist; als ginge sie überhaupt nichts etwas an. Das sind übrigens oft die, die niemandem trauen. Können sie sich ja nicht einmal selbst und ihrem eigenen Urteil trauen. Das ist schon sehr schade …