Was genau passiert beim Vorlesen?

LebensweltenPädagogik neu gedacht

„Lesen ist Abenteuer im Kopf“ – den Slogan kennt doch jeder. Im Gegensatz dazu wissen die meisten Menschen nicht, was Bibliotherapie ist. Es ist – mit meinen Worten erklärt – die Heilkraft, die Büchern und Geschichten innewohnt. Das erste Mal, als ich mit dem Thema in Berührung kam war, als mir zufällig das Buch „Lesen macht gesund“ von Silke Heimes in die Hände fiel. Bibliotherapie ermöglicht Dir neue Welten durch Lesen zu erforschen und dabei den einen oder anderen Kratzer auf Deiner Seele verheilen zu lassen. Aber dieser Weg steht nur Menschen offen, die gerne lesen.

Grundvoraussetzung dafür, dass sich das Gerne-Lesen irgendwann entwickelt, ist es, Bücher an sich zu mögen, also ein allererster positiver Zugang, eine Lust an der Geschichte, damit sich die Freude am Lesen überhaupt entwickeln kann. Es gibt viele Kinder, die selbst nicht gerne lesen, die aber Bücher an sich lieben, weil allein schon der Anblick der bunten Rücken im Regal ihnen das Gefühl von Geborgenheit und Nähe zu einem geliebten Menschen vermittelt oder kuschelige Vorlesesituationen in Erinnerung bringt. Damit irgendwann später Selber-Lesen Spaß macht, ist es förderlich, in der Kindheit jemand Einfühlsamen um sich gehabt zu haben, mit dem man Bilderbücher angesehen, der Märchen und Sagen erzählt oder sogar längere Bücher kapitelweise vorgelesen hat.

Während frühes Vorlesen und das Anschauen von Bilderbüchern intensive Sprachförderung ist, bei der der Wortschatz, die Satzstellung und die Satzbildung maßgeblich gefestigt werden, fördert laut einer Studie der Pädagogischen Hochschule Weingarten regelmäßiges Vorlesen sogar noch in der 8. Schulstufe die Lesefähigkeit der Schüler.

Klingt erstaunlich?

Nicht, wenn man sich darauf besinnt, was beim Vorlesen im Bereich zwischenmenschlicher Interaktion aber auch in der Gedankenwelt passiert.

Vorlesen stärkt die Bindung

Es sind nicht nur die körperliche Nähe und der Blickkontakt beim Vorlesen, die Geborgenheit und Wohlbefinden vermitteln. Beim Aneinanderschmiegen vor einem guten Buch passiert ein Wechselspiel von Gefühlen, die zwar emotional im Hintergrund bleiben, weil die Geschichte im Vordergrund steht, aber gerade durch ihre zurückhaltende Selbstverständlichkeit den Lesenden und den Zuhörenden verbinden. Wer dem anderen gerne vorliest übermittelt authentische Freude an dem Buch und schenkt Wertschätzung in Form von Zeit und ungeteilter Aufmerksamkeit.

Vorlesen stärkt soziale Kompetenzen

Wer die Fähigkeit besitzt beim Lesen in die Rolle einer der handelnden Personen zu schlüpfen, versinkt buchstäblich in der Geschichte. Die Emotionen, die dabei entstehen drückt der Lesende über Mimik und Gestik aus genauso wie über die Stimmlage und Lesegeschwindigkeit. Speziell kleinen Kindern helfen diese Merkmale die aus dem Text erwachsenden Gefühle besser erleben und nachvollziehen zu können. So trägt nicht nur der Inhalt, sondern auch die Art und Weise des Lesens zur Entwicklung und Stärkung der Empathiefähigkeit bei. Doch nicht nur das: Fast jede Geschichte behandelt einen Konflikt oder ein Problem, das am Ende gelöst wird. Auf diese Weise lernen Kinder ihrem Alter entsprechend, dass Herausforderungen zum Leben dazu gehören, und dass mit etwas Nachdenken immer eine passende Lösung gefunden werden kann.

Vorlesen stärkt die Vorstellungskraft

Ob man selbst liest oder zuhört – sobald man sich gedanklich in der Geschichte angekommen fühlt, gibt es eine Person, meistens den Protagonisten, mit dem man sich identifiziert. Es kann aber auch eine andere Rolle in der Erzählung sein, auf die man besonders anspricht. Warum das so ist, wird vielleicht erst bei näherer Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema klar. Es muss gar nicht ergründet werden. Manchmal liegt die Lösung auf der Hand, weil man spürt deutlich: „So wäre ich gerne!“ oder auch „So bin ich gar nicht!“ oder ein anderes Mal wiederum: „So sollte man andere nicht behandeln!“.

Aus diesem Grund sind Bücher wunderbar dafür geeignet, um Familienthemen anzusprechen. Der absolute Renner bei uns zu Hause waren die Hausmonster von Stanislav Marijanovic. Ich persönlich fand, dass meine Tochter innige Freundschaft mit Letz-Petz-Fetz geschlossen, während mein Sohn offenbar eine intensive Beziehung zu Pablo Zimmersau aufgebaut hatte. Auf liebevolle Art und Weise haben die Monster meinen Kindern einen Spiegel vorgehalten, den wir mit der Zeit immer seltener gebraucht haben. Im Buch nachlesen zu können, welche Monster es gibt, ihre Spuren aber auch im Alltag immer wieder zu entdecken und sie ins Geschehen einzubinden oder aus ihren Eigenschaften neue Geschichten zu schnüren, hat zum Nachdenken und Reflektieren angeregt und die Phantasie verstärkt. Kinder interpretieren und erweitern gute Geschichten in Rollen- oder Puppenspielen, was ihren psychischen Entwicklungsprozess unterstützt. Sie beobachtend habe ich festgestellt, dass sie alle einen inneren Wunsch haben, anderen Gutes zu tun, Schönes weiterzugeben oder Probleme aufzulösen. Im Spiel setzen sie um, was das Buch in ihrem Kopfkino ausgelöst hat. Es ist ein wunderbarer Aktivator für Kreativität, der besonders jene Kinder anspricht, die in Bildern denken. Das Bilderdenken läuft deutlich schneller ab – es ist wie Fernsehen im Kopf, vielleicht noch faszinierender als die Flimmerkiste und lässt Kinder auf Gedanken stoßen, auf die Sprachdenker oft gar nicht kommen.

Vorlesen stärkt das Erinnerungsvermögen

Kinder erinnern sich nicht nur an die Inhalte der Geschichten, oft schnappen sie kleinste, gut recherchierte Details auf, speichern sie ab und erweitern ihr Wissen. Manchmal sind es Informationen aus der Welt der Wissenschaft, manchmal Anregungen wie Beziehungen funktionieren. Ein anderes Mal wird spielerisch das kindliche Interesse an neuen Sachverhalten geweckt. In jedem Fall speichern sie ab, was sie gehört haben und trainieren ganz nebenbei ihr Gedächtnis. Darüber hinaus üben sie sich durch das Besprechen von Bildern oder interessanten Stellen im Text im Reflektieren, Diskutieren und Philosophieren.

Muss es wirklich Vorlesen sein? Reichen Hörspiele nicht auch?

Meiner Ansicht nach entlassen Hörspiele Erwachsene nur vermeintlich aus der „Pflicht“ des Vorlesens. Wobei es an sich schon schade ist, wenn es als Pflicht angesehen wird. Wenn es eine mühsame Last ist, transportieren Bezugspersonen negative Gefühle mit. Wenn das bei Dir der Fall ist und für Dich Geschichten eine Überwindung sind, ist das möglicherweise für die Aktivierung der Freude an Büchern für Dein Kind schädlicher als gar nicht vorzulesen.

Ja, zugegeben, bei einem Hörspiel wird das Kopfkino auch angeregt. Aber im Hörspiel gibt es keine Mimik und Gestik einer Bezugsperson. Ein Hörspiel kann nicht antworten. Mit einem Hörspiel kann man keine Bilder anschauen. Wenn Dir Vorlesen wirklich zuwider ist, sind Hörspiele aus meiner Sicht eine Alternative, um sich an Geschichten heranzutasten. Man kann sie gemeinsam anhören. Man kann dabei im Bett oder auf dem Boden herumkullern und wenn man über etwas sprechen möchte, die Pause Taste drücken. Man kann gemeinsam in Hörspiele hineinwachsen, oder Du kannst Dir ein Hörspiel vorerst allein anhören, Dir Fragen oder Kommentare dazu überlegen und es im Anschluss mit Deinem Kind gemeinsam hören und frei darüber sprechen. Später, wenn Dein Kind die Geschichte schon kennt, kann es sie auch ohne Dich anhören.

Insgesamt finde ich, dass ein Hörspiel – wenn schon keine Vorlesegeschichte – noch immer besser ist als bewegte Bilder aus dem TV-Gerät. Das Hörspiel kann viele Emotionen nicht vermitteln, die der Vorleser transportieren kann. Aber das Hörspiel kann dennoch das Kopfkino in einer Weise anregen, wie es das Kino nicht kann, weil es viel zu viele Bilder fix fertig anbietet. Bei manchen Kindern ist der Genuss des Kopfkinos so stark ausgeprägt, dass sie den zu einem Buch oder Hörspiel passenden Filme gar nicht anschauen wollen, weil er ihre innere Vorstellung zerstören könnte.

Vorlesen generell bezieht sich nicht nur auf Kleinkinder. Es geht nicht allein um Sprachförderung oder darum, die Liebe zu Büchern zu erwecken. Vorlesen ist altersunabhängig. In jedem Alter gibt es Vorzüge. So kannst Du Dein Volksschulkind zum Selbstlesen anregen, indem Du nach ein oder zwei vorgelesenen Seiten vortäuschst, zu müde zu sein um weiterzumachen. Am besten genau dann, wenn Du den Spannungsbogen aufgebaut hast und Dein Kind auf keinen Fall bis zum nächsten Abend warten möchte, um zu erfahren, wie die Geschichte endet. Das ist der perfekte Zeitpunkt, ihm das Buch zu übergeben, sodass es selbst weiterliest.

Meine Kinder sind mittlerweile Jugendliche, aber ich lese ihnen noch immer vor – speziell im Sommer. Es gibt jedes Jahr eine Urlaubslektüre abhängig von ihrem Alter. So haben wir schon die Kinder vom Bahnhof Zoo und das Tagebuch der Anne Frank besprochen, beides Bücher, von denen ich meine, dass Jugendliche damit alleingelassen überfordert sind, sie aber andererseits kennen sollten. Für den heurigen Urlaub habe ich in unserem Lieblingsbuchgeschäft 1984 bestellt und freue mich auf das Vorlesen am Strand und die Gespräche dazu. Selbst wenn Dein Kind gerne liest, empfiehlt es sich aus meiner Sicht, inhaltlich schwierige Bücher gemeinsam zu erarbeiten. Spür mal, was das mit Eurer Beziehung macht.

Bist Du experimentierfreudig? Dann such Dir ein Buch aus, das Du richtig gerne hast, kuschel Dich zu Deinem Partner und lies das erste Kapitel oder eine abgeschlossene Geschichte aus einem Buch vor und warte die Reaktion ab. Ich bin sicher, sie wird sehr positiv sein, weil auch Erwachsene gerne zuhören. Das Vorlesen kann wechselseitig sein und ist doppelt schön, wenn nicht nur der Text ansprechend ist, sondern die Stimme zu einem geliebten Menschen gehört.

Wenn Dir das Vorlesen großen Spaß macht, kannst Du Dir auch überlegen, Lesepate zu werden. In den meisten größeren Städten gibt es Organisationen, die ehrenamtliche Vorleser an einzelne Kinder oder an Kleingruppen vermitteln oder der Nachfrage in Schulen, Kindergärten und Büchereien, Krankenhäusern und Altersheimen nachzukommen versuchen. Anregungen, wie man Geschichten, von denen man selbst begeistert ist, überzeugend an Zuhörer weitergibt, kannst Du Dir im „Handbuch Vorlesen“ von Melanie Friedrich holen, zu beziehen über BoD – Books on Demand und hier im Internet zu finden.

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Diskussion (2 Kommentare)

  1. Liebe Simone, gibt es dazu auch etwas in Englisch? Oder vielleicht auch deinen Artikel hier in Englisch? Ich würde das gern in meiner Schule in Kenia den Lehrern dort schmackhaft machen.

  2. Liebe Gabriela,
    vielen lieben Dank für die Nachfrage!
    Wir haben im Redaktionsteam Wege besprochen, wie wir möglicherweise zwar ohne die Übersetzung eines Native Speakers aber dennoch in akzeptablem Niveau die pädagogische Beiträge auf Englisch zur Verfügung stellen können. Wir arbeiten daran und hoffen, das bald entsprechend anbieten zu können. Natürlich würde ich mich freuen, wenn die Lehrer und somit die Kinder in Kenia davon profitieren und stehe natürlich auch gerne für konkrete Rückfragen zur Verfügung!
    Viele liebe Grüße

    Simone