Warum weinst du, alter Mann?
Jede Sekunde zählend und wieder und wieder einen Blick auf die Uhr werfend, die an der Wand des Büros hing, wartete ich darauf, dass der große Zeiger zur Zwölf und der kleine zur Drei weiterrücken würde. Ich tat das, weil ich das Büro um drei am Nachmittag eilig verlassen müsste, denn es war Freitag, und die Hälfte des Tages war frei.
Morgen, am Samstag, würde ich die Gelegenheit haben, meine Zeit mit meinen Eltern, meiner Familie und meinen Verwandten zu verbringen. Mehr noch, für mich ist mein Zuhause mein Zuhause. Es fühlt sich an wie im Himmel, zu Hause zu sein. Das vorzügliche Essen, das ich von meiner Mutter zusammen mit ihrer kraftvollen Liebe erwarten durfte, ist für mich das Schönste auf dieser Welt. Nicht einmal der Nektar der Trauben kann so süß sein für mich! Bevor ich euch eifersüchtig mache mit den Erklärungen über die Kochkünste meiner Mutter, muss ich euch sagen, dass es inzwischen drei Uhr im Büro war.
Ich schaltete mein Notebook aus, verriegelte die Schublade meines Schreibtisches, schloss den Schrank und verließ das Büro. Nun musste ich in mein Home-sweet-home kommen, das 45 Minuten mit dem Auto und zweieinhalb Stunden zu Fuß von Chaurjahari entfernt lag, dem Ort im Rukum-Distrikt in Nepal, wo sich mein Büro befand.
Nach dem Verlassen des Büros musste ich zunächst nach Kudu gelangen, einem Ort im Jajarkot-Distrikt. Von dort aus würde ich einen Bus in meine Heimatstadt Khalanga nehmen können, der Hauptstadt des Jajarkot-Distrikts. Ich würde etwa zwanzig Minuten brauchen, um zu Fuß nach Kudu zu gehen.
Ich ging am Ufer des Bheri entlang und erreichte nach sieben Minuten die Hängebrücke, die Chaurjahari über den Fluss hinweg mit Kudu verbindet. Innerhalb von zwei Minuten war ich auf der anderen Seite und ging dort bergauf.
Dabei begegnete ich einem alten Mann, der eine Decke in seiner linken und einen Stock in seiner rechten Hand trug. Er hatte Mühe, bergauf zu gehen. Als ich neben ihm war, sah ich, dass ein Fuß immer wieder aus seinem Slipper rutschte. Er tat sein Bestes, um seinem Fuß im Schuh zu halten, aber es gelang ihm nicht, weil sein ganzer Körper vor Schwäche zitterte. Nun fiel ihm die Decke aus der Hand. Als er sich langsam danach hinunterbeugte, versuchte er mit seiner linken Hand sein Bein im Schuh zu halten, doch die Decke rollte bergab. Sie rollte vom Gehweg hinunter auf eine schmutzige und sehr rutschige Ecke. Der Mann kämpfte immer noch darum, seinen Schuh am Fuß zu behalten, und hatte noch nicht bemerkt, dass seine Decke auf der rutschigen Ecke liegen geblieben war.
Er tat mir leid, und ich lief zu ihm hinüber. Ich griff nach seiner rechten Hand und half ihm, stabil zu stehen. Nun konnte er sein Bein im Schuh zurechtrücken. Dann starrte er mich an. Jetzt konnte ich sein altes, müdes Gesicht sehen und den Schweiß, der daran herablief. Bevor ich irgendetwas sagen konnte, drehte er sich um und fragte nach seiner Decke. Ich zeigte ihm, wo sie lag, auf der rutschigen Ecke. Als er sie dort liegen sah, begann Tränen aus seinen Augen zu rinnen. Dieser alte Mann mit den Augen voller Tränen – es war wirklich tragisch für mich, das zu sehen!
Wie hätte ich mir das länger anschauen können? Seine Augen waren voller Tränen, doch die tiefen Falten in seinem Gesicht hinderten sie daran, geradewegs nach unten zu rinnen, und sie breiteten sich über beide Wangen aus, die innerhalb weniger Sekunden völlig nass waren. Doch kurz darauf waren sie schon getrocknet. Ich glaube, das raue Gesicht dieses alten Mannes, das von der kalten, staubigen Luft beschädigt zu sein schien, ließ die Tränen schneller trocknen. Dennoch rollten die Tränen weiterhin aus seinen Augen herab.
Ich konnte mich nicht länger beherrschen und fragte ihn, warum er weinte. Nach einem langen Versuch sagte er mit ganz schwacher Stimme, dass dies die einzige Decke sei, die er zu Hause habe, und dass er sie das ganze Jahr benutze, um sich zuzudecken, Tag und Nacht. Nach einer Pause von ein paar Sekunden fügte er hinzu: „Ich habe die Decke gewaschen, nach fast einem Jahr. Es war sehr mühsam. Niemand hilft mir. Wie soll ich sie jetzt zurückholen und noch einmal waschen?“ Ich war völlig schockiert, das zu hören.
Ich sagte ihm, er solle sich auf den Stein dort setzen, und bewegte mich langsam und vorsichtig nach unten, um die Decke zu holen. Neben der rutschigen Ecke lag ein langer Stock. Ich nahm ihn und konnte mit seiner Hilfe die Decke vorsichtig nach oben angeln. Endlich hatte ich sie in der Hand und war sehr glücklich, sie dem alten Mann zurückgeben zu können.
Nun gingen der Alte und ich gemeinsam weiter. Ich hatte nur einen kleinen Rucksack dabei, also trug ich mit der einen Hand seine Decke und stützte ihn mit der anderen Hand, bis wir oben ankamen, wo wir das Flachland von Kudu sahen. Auf dem Weg nach Kudu bat ich ihn, mir mehr über sich zu erzählen. Als er von seinem täglichen Kampf im Leben sprach und über seine Familie, fühlte ich mich, als hätte ich einen Stromschlag von 240 Volt abbekommen. Ich dachte, dass ich mich an seiner Stelle längst mit einem Strick an einem Baum aufgehängt oder von der Brücke ins Wasser gestürzt hätte.
Dieses extreme Niveau von Schmerz und Einsamkeit würde mich verrückt machen. Ich würde wie ein Vulkan explodieren, und meine Körperteile würden wie flüssige Lava umherfliegen. Ich würde nur als Asche auf dem Boden überleben oder in der Erinnerung einiger Menschen, die jede Sekunde hassten und mir mein ganzes Leben mit Schmerz erfüllten.
Fortsetzung folgt…
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake