Warum hassen wir alte Menschen?
Im ersten Teil dieses Berichtes erzählte ich von meiner Begegnung mit einem alten Mann, die mich tief berührt und nachdenklich gestimmt hat. Hier habe ich meine Gedanken festgehalten. Der alte Mann stellte sich als Kedar Prasad Giri vor und erzählte, er sei 82 Jahre alt und der älteste von vier Brüdern.
Ich fragte ihn, warum er in seinem Alter alleine zum Fluss hinuntergegangen sei, um seine Decke zu waschen, schließlich könne das ja gefährlich für ihn sein. Ob ihm denn niemand aus seinem Haushalt helfen könne? „Nein“, antwortete er, „ich habe keine Familie mehr.“ Er erzählte, er sei verheiratet gewesen, aber seine Frau lebe nicht mehr mit ihm zusammen. „Warum, Großvater?“, fragte ich. Darauf erzählte er, dass seine Frau einst eine Augenkrankheit bekommen habe, an der sie später erblindet sei. Seitdem lebe sie bei der Familie ihrer Mutter.
„Oh mein Gott! Es tut mir wirklich leid, das zu hören!“, sagte ich. „Aber was ist mit deinen Kindern?“ Er hatte drei Töchter, antwortete er. Die älteste von ihnen starb im Bheri-Fluss, als sie während der Regenzeit Wasser holen wollte, und die mittlere beging drei Monate nach ihrer Hochzeit Selbstmord. Sie habe sehr unter ihrem gewalttätigen Ehemann gelitten, der trank und sie ständig schlug. Seine jüngste Tochter schließlich war behindert und starb mit fünf Jahren an einer Lungenentzündung.
Ich fragte: „Was ist mit deinen Brüdern? Kümmern die sich nicht um dich?“ Er antwortete, einer seiner Brüder sei während des zehnjährigen Bürgerkriegs in Nepal ums Leben gekommen, der von der maoistischen Partei NCP geführt wurde. Die beiden anderen seien glücklich verheiratet, würden sich aber nicht um ihn kümmern, sagte er mit Tränen in den Augen.
„Was? Die tun wirklich nichts für dich?“ „Ja“, sagte er, „sie ignorieren mich die ganze Zeit.“ „Aber wie kommst du an etwas zu essen? Wie hast du bis heute überlebt? Wer kocht für dich?“ Ich stellte ihm Frage um Frage. „Ich habe ein kleines Stück Land. Meine Nachbarn bauen darauf etwas an und geben mir einen Teil davon ab. Damit überlebe ich. Meistens koche ich selbst, manchmal bekomme ich auch von den Nachbarn etwas zu essen. Früher hatte ich viel mehr Land, doch meine Brüder nahmen mir das meiste davon weg, weil sie meinten, dass ich ja nicht mehr so viel brauche, alleine und ohne Kinder. Nur ein kleines Stück ist mir geblieben, zusammen mit meinem Haus.“
Wir waren nur noch fünf Minuten von der Hauptstraße in Kudu entfernt, wo mein Bus nach Khalanga fuhr, aber wir bewegten uns ungefähr mit der Geschwindigkeit einer Schildkröte, denn der alte Mann konnte nicht schneller gehen.
Plötzlich kam mir eine Frage in den Sinn. „Woher bekommst du Geld?“, fragte ich ihn. „Du wirst sicher manchmal etwas brauchen.“ „Geld?“ antwortete er. „Wo sollte ich Geld herbekommen? Ich bekomme ja nicht einmal Essen zum Überleben. Wieso sollte mir also irgendwer Geld geben?“ „Oh, ich verstehe“, sagte ich und suchte sofort in meiner Tasche. Ich hatte nur 700 nepalesische Rupien dabei, rund 6 Euro. Ich gab ihm einen 500-Rupien-Schein und sagte, er solle ihn für Notfälle aufbewahren.
Dann fragte ich ihn: „Bekommst du nichts von der Unterstützung, die die nepalesische Regierung an alte Menschen zahlt? Oder weißt du nichts davon?“ Er wisse davon, antwortete er, aber vor ein paar Jahren habe er seinen Ausweis verloren, und niemand habe ihm bisher geholfen, einen neuen zu bekommen. Ohne Ausweis werde aber keine Unterstützung ausgezahlt.
Endlich hatten wir die Hauptstraße erreicht. Ich half ihm, sie zu überqueren und bat ihn, langsam zu gehen.
Mein Bus kam, und ich musste mich verabschieden. Nachdem ich zu Hause angekommen war, fragte ich meinen Vater nach dem Namen des zuständigen Sekretärs in Jaktipur, dem Verwaltungsbezirk, in dem sich Kudu befindet, denn mein Vater ist ebenfalls Sekretär. Er sagte mir, dass der dortige Sekretär Dilli Bahadur Acharya heiße. „Hast du seine Nummer?„, fragte ich ihn. „Ja, aber wozu brauchst du die?“ Ich erzählte ihm die ganze Geschichte.
Am frühen Sonntagmorgen fuhr ich wieder nach Chaurjahari. Langsam vergingen die Tage im Büro, und wieder war es Freitag. Wie gewöhnlich ging ich nach Kudu, und dort suchte ich nach dem alten Mann. Ich sah eine Frau in ihrem Laden und beschloss, sie nach ihm zu fragen. Doch sie erzählte mir, dass er kürzlich gestorben sei.
„Was? Machst du Witze? Wann ist er gestorben?“ Sie antwortete, dass er vor zwei Tagen gestorben sei und ihr Schwager war.
„Was zur Hölle soll das?“, fragte ich mich. Wie kann Gott so gemein zu einem Menschen sein? Ich fühlte mich sehr schlecht für den alten Mann. Tränen waren in meinen Augen. Ich bedauerte, dass ich ihm nicht mehr helfen konnte; er war ein Mensch, der von allen betrogen wurde. Ich betete zu Gott, dass solche Dinge niemandem passieren sollten. Das war ein sehr tragisches Ende für den alten Mann! Mein Herz war völlig zerbrochen, und ich ehrte ihn mit einem Gebet in der Hoffnung, dass seine Seele für immer in Frieden ruhen möge.
Jeder wird alt, dachte ich. Jeder wird schwach und hilflos und erreicht irgendwann das letzte Stadium. Warum also hassen wir alte Menschen? Das ist nicht menschlich. Können wir uns vorstellen, selbst einmal auf diese Art behandelt werden, wenn wir alt sind? Das Leben ist für jeden gleich wichtig. Wir müssen das Herz und die Empathie haben, anderen zu helfen. Ich habe keine Ahnung, wie viele alte Menschen so alleine gelassen werden in ihren letzten Jahren wie dieser alte Mann, doch wir müssen lernen, die Alten zu respektieren, und ihnen Liebe und Unterstützung geben. Das ist unsere Aufgabe als Menschen und der wahre Grund für das Menschsein!
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
Credits
Image | Title | Autor | License |
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Warum hassen wir alte Menschen? | Vinoth Chandar | CC BY 2.0 | |
Kudu, der Ort, von dem ich den Bus nach Jarakot nehmen konnte. | Bravo Aatma | CC BY-SA 4.0 |