Tristan und Isolde – Neuinszenierung als „Tristan Experiment“

Lebenswelten

Die Wiener Kammeroper bringt eine bahnbrechende Neuinszenierung von Richard Wagners Meisterwerk „Tristan und Isolde“ zur Aufführung – Ein Bericht von Doris Peczar

Der Stoff von Tristan und Isolde gehört neben dem des heiligen Grals oder König Artus und seiner Tafelrunde zu den meistbearbeiteten der erzählenden Literatur im europäischen Mittelalter. Besonders in Deutschland und Frankreich wurde das Thema mannigfach von zahlreichen Dichtern bearbeitet und interpretiert.

Auch Richard Wagner hat sich des Stoffes angenommen und stellt in der „Handlung in drei Aufzügen“ seine Bearbeitung des mythisch-historischen Stoffes dar. Vornehmlich aber beeinflusste und motivierte ihn seine Beziehung zur verheirateten Mathilde Wesendonck in außerordentlicher Weise. Die Unerfüllbarkeit und Unerfülltheit dieser Liebe bewog ihn zur Verarbeitung seines Erlebens in dem unvergleichlichen und bahnbrechenden musikalischen Meisterwerk „Tristan und Isolde“.Die Frage nach dem Sein und der Wirklichkeit, der Wahrhaftigkeit und der Existenz wird in dem Stück eindrucksvoll behandelt.
Die Entscheidung zwischen der Außenwelt mit ihren Regulativen und der Welt des Herzens wird letztlich zugunsten der Liebe getroffen, wenngleich das mit den diesseitigen Gegebenheiten unvereinbar scheint.

Wagners Werk, das musikalisch neue Maßstäbe setzte, wird derzeit in der Wiener Kammeroper unter der Regie von Opernstar Günther Groissböck als „Tristan Experiment“ neu inszeniert. Groissböck feiert damit sein Regiedebüt, man darf ihn allerdings auch in der Rolle des König Marke bewundern und seine unvergleichliche Stimme genießen.

Die Inszenierung als „Tristan Experiment“ stellt in verblüffender Direktheit den Aktualitätsbezug her, indem der menschliche Konflikt zwischen dem Faktischen und dem Geist um die Dimension der Virtual Reality erweitert wird.
Die Fragestellung, was das „wahre“ Leben sei, ist Gegenstand eines Experimentes, an dem Tristan und Isolde als Probanden teilnehmen. Die Verlockung des Virtuellen, die Identifikation und Abdrift in diese Welten sind ebenso Zutaten, wie Begegnung, Berührung und Kommunikation.
Unter dem Einfluss diverser Substanzen – Liebes- wie auch Todestränken – werden unter anderen Umständen nicht nachvollziehbare Verhaltensänderungen verständlich. Diese Tränke können als Einflüsse von außen, die vom Individuum nicht direkt steuerbar sind, verstanden werden. Fake News ist das Stichwort, das sich in diesem Kontext aufdrängt.
Die Protagonisten oszillieren zwischen ihren Realitäten, die Suche nach dem „Echten“, dem, was das wahrhafte Leben ausmacht, kulminiert sich eindrücklich und mündet
letztlich in die Erkenntnis, dass die Wahrheit, die gelebt werden will, mit der dargebotenen Realität nicht vereinbar ist. Der Freitod als einzige Möglichkeit der Vereinigung scheint ausweglos.

Das nüchterne Bühnenbild, das die Laborsituation darstellt, wird durch eindrucksvolle, teils psychedelische Projektionen überlagert, was den Zuschauer in die aufgewühlte Geisteswelt der Protagonisten auf eindrucksvolle Weise eintauchen lässt.

Diese Inszenierung der Laborsituation in ihrer Absurdität legt den Konnex zu den Ideen des Konstruktivismus nahe, Worte wie die von Paul Watzlawick scheinen maßgeschneidert: „Die eigentliche Ursache des Leids liegt in unserer Unwilligkeit, Tatsachen als reelle Tatsachen und Ideen als bloße Ideen zu sehen, und dadurch, dass wir ununterbrochen Tatsachen mit Konzepten vermischen. Wir tendieren dazu, Ideen für Tatsachen zu halten, was Chaos in der Welt schafft.“

Letztlich geht es um das Thema Freiheit, die Möglichkeit, selbst und eigenverantwortlich entscheiden zu können, welchen Weg das Individuum einzuschlagen gedenkt. Die Probanden finden sich gefangen im Experiment, einzigen Halt gibt ihnen die Erinnerung an eine anfangs stattgefundene gegenseitige Berührung, die als Verbindung zur analogen Welt dient und sie letztlich dorthin zu flüchten drängt. Die Probanden erinnern sich dieser Berührung und erkennen einander in ihrer „wahren“ Seinsqualität als Richard und Mathilde. Sie entfliehen in ihre Welt, die nur ihnen gehört und in welcher einzig wahres Leben möglich scheint. Die Rückkehr in die kalte Realität des Labors scheint undenkbar, weshalb der Freitod die beiden vereinen soll.

Die Teststellung der Laborsituation übersieht die Komponente des eigenen Willens und der Geisteswelt der Probanden, was nicht nur das Experiment scheitern lässt, sondern auch das Paar durch den Tod Tristans auseinanderreißt.
Das Negieren der wahren menschlichen Natur, des Geistes und des Herzens kann nur zur Tragödie führen, was in dieser Inszenierung eindrücklich vermittelt wird. König Marke, der Leiter des Experiments, ein Wissenschaftler ohne Sinn für Empathie, erkennt seinen Fehler leider zu spät, Gregory Bateson´s Zitat: „Strenge allein ist lähmender Tod, Phantasie allein ist Geisteskrankheit“, könnte als Leitstern des Stückes die Grundaussage und den fatalen Irrtum subsumieren.

In einer Zeit, in der durch die jüngsten Entwicklungen Freiheiten, Glaubensmuster, Ideale und Ideologien zutiefst erschüttert wurden und werden, erhält das Stück eine besondere, aktuelle Brisanz, in diesem Kontext drängt sich ein weiteres Zitat Gregory Bateson´s auf: „Das Lebewesen, das im Kampf gegen seine Umwelt siegt, zerstört sich selbst.“

Die Brücke zum Existentialismus gedanklich nicht zu beschreiten, wäre in dem Zusammenhang ein Fehler, da die Diskussion um den Freitod und dessen Ablehnung nicht
zuletzt von Albert Camus intensiv geführt wurde. Das philosophische Fragen kulminiert für Camus in dieser für ihn einzig wichtigen Frage, die er allerdings nicht als Lösung erkennt, da der Freitod hieße, dem Absurden zu erliegen. In dem Bewusstsein der universellen Absurdität weiterzuleben, dem Absurden demnach ins Auge zu blicken, ist für Camus die anzustrebende und einzig sinnvolle Auflehnung gegen das Absurde. Zu akzeptieren, dass es keinerlei Sicherheit gibt, weder die unserer Vernunft, noch die eines Gottes, wenngleich das System eine Ordnung suggeriert, das absurde Verhältnis von Mensch und Welt also anzuerkennen, ermächtigt den Menschen erst, sich als freies Wesen anzunehmen.

Tristan und Isolde vermitteln hautnah diesen inneren Konflikt und die Revolte gegen die oktruierte Ordnung der Teststellung in der Laborsituation. Sie erkennen zwar die Absurdität ihrer Situation, lehnen sich aber auf, anstatt den Gedanken, dass Mensch und Welt sich stets in einem absurden Spannungsverhältnis befinden, zu akzeptieren. „Nicht die „Härte einer Situation und die von ihr auferlegten Leiden“ sind Motive dafür, dass man sich einen anderen Zustand der Dinge denkt, bei dem es aller Welt besser ginge; im Gegenteil, von dem Tag an, da man sich einen anderen Zustand denken kann, fällt ein neues Licht auf unsere Mühsale und Leiden und entscheiden wir, dass sie unerträglich sind.“ (Jean-Paul Sartre)
Erst in dem Moment, in dem die Protagonisten Berührung erfahren, sich also ihrer wahren Wesenheit erinnern, nehmen sie die unerträgliche Härte der aktuellen Situation wahr und suchen sich ihrer zu entziehen. Wahre Erkenntnis erfolgt erst durch das Erleben von Leid. Und Leid wird wiederum durch Erkenntnis erzeugt.

1999 wurde das Thema von Fakt und Fiktion im Film „Matrix“ verarbeitet, Bühnenbild und Stimmung in der Inszenierung des „Tristan Experimentes“ lassen den Einfluss dieses filmischen Meisterwerkes erkennen. Starkes Augenmerk wird in dem Film auf die Kraft des Willens und der Imagination, der Selbsterkenntnis und der selbsterschaffenen Realität gelenkt, was wieder den Kreis zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie schließt, dessen erklärter Anhänger Richard Wagner war, als wahrheitssuchenden und „unzeitgemäßen“ Philosophen, als den ihn auch Friedrich Nietzsche geschätzt hat.

Nietzsche, der sich Zeit seines Lebens mit Richard Wagner und Arthur Schopenhauer – erst bewundernd, später feindselig – beschäftigt hat, schrieb in dem Kontext: „[Nun kommt] auf eine furchtbare Weise die Schopenhauerische Frage zu uns: hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn? – jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollständig und in alle ihre Tiefe hinein gehört zu werden. Was Schopenhauer selbst auf diese Frage geantwortet hat, war – man vergebe es mir – etwas Voreiliges, Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen- und Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben an Gott, der Glaube gekündigt war … Aber er hat die Frage gestellt.“

All diese Fragen werden im „Tristan Experiment“ aufgeworfen, dargestellt und bearbeitet, und bleiben zuletzt dem philosophisch geneigten Publikum zur eigenen Rezension und dem kreativen Diskurs offen.

Tristan Experiment

https://www.theater-wien.at/de/programm/production/984/Tristan-Experiment

Theater an der Wien / Kammeroper

Musikdrama in drei Aufzügen (1865)
Libretto von Richard Wagner
Fassung für Kammerorchester von Matthias Wegele
In deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln
Neuproduktion des Theater an der Wien in der Kammeroper
Premiere: Mittwoch, 26. Mai 2021, 19:00 Uhr

Aufführungen: 29. Mai & / 1. / 6. / 9. / 13. / 17. / 20. Juni 2021, 19.00 Uhr
Einführungsmatinee: 16. Mai 2021

Besetzung:

Musikalische Leitung
Hartmut Keil
Inszenierung
Günther Groissböck
Licht
Franz Tscheck
Videodesign
Philipp Batereau
Ausstattung
Stefanie Seitz
Tristan
Norbert Ernst
Isolde
Kristiane Kaiser
Brangäne
Juliette Mars
König Marke
Günther Groissböck
Kurwenal / Melot
Kristján Jóhannesson
Orchester
Wiener KammerOrchester

Alle Fotos: (c) Herwig Prammer

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