Tag 1: Von Manali (2.050 m) nach Koksar (3.500 m)
Als wir zurückgehen, kommen wir an einem Motorradladen vorbei und sehen „DAS Motorrad“: eine Royal Enfield, 10 Jahre alt, 500 Kubik, türkis lackiert. Man kann fühlen, dass es eine „Seele“ hat, dass es einiges durchgemacht hat, und es fühlt sich fast an, als spreche es zu uns. Irgendeine Kraft zieht uns zu ihm hin, und sofort gehen wir es uns näher anschauen. Während einer Probefahrt scheint es sogar noch perfekter als zu Beginn; der Klang ist irre – wie eine schnurrende Katze. Wir nennen es „Angelo“, das italienische Wort für „Engel“.
Um das zu feiern, gehen wir in einem italienischen Restaurant essen und bereiten uns mental darauf vor, morgen in aller Frühe loszufahren…
Ich kann’s kaum erwarten!
(aus: Worum geht es denn wirklich bei der Angst?)
Mitten in der Nacht wache ich auf und fühle mich extrem schlecht. Nach einer Weile muss ich mir eingestehen, dass ich etwas Schlechtes gegessen und mir eine Lebensmittelvergiftung zugezogen habe. Ich bin den Rest der Nacht wach und muss unglücklicherweise die Tatsache akzeptieren, dass ich heute gar nichts machen werde, außer im Bett zu bleiben. Ich versuche, mich so rasch wie möglich zu erholen – und mich zu rehydrieren, um am nächsten Morgen abfahrbereit zu sein.
Am späten Nachmittag fühle ich mich langsam etwas besser, und wir beginnen damit, unser Gepäck vorzubereiten. Wir müssen beim Packen sehr sorgfältig sein, denn es ist extrem wichtig, das Gewicht so gering wie möglich zu halten, da jedes zusätzliche Kilo einen Einfluss auf die Stabilität des Motorrads hat. Es ist etwas schwierig, das Gepäck so weit zu reduzieren, denn immerhin wird es ein Drei-Wochen-Trip sein, bei dem wir möglicherweise Temperaturen unter Null haben werden. Außer einem Zelt, Schlafsäcken, Medikamenten, Reparaturwerkzeug, Winterkleidung, wasserdichten Überzügen, Lebensmitteln und Wasser müssen wir auch zusätzliches Benzin für etwa 200 Kilometer mitnehmen, weil es unterwegs keine Tankstelle gibt.
Als wir an einem schönen, sonnigen Tag mit nicht einer einzigen Wolke am Himmel aufwachen, bin ich zuversichtlich, dass heute nichts schiefgehen wird – keine Lebensmittelvergiftung oder was auch immer. Ich bin sehr aufgeregt, das Abenteuer endlich beginnen zu können! Nachdem wir alles bereit gemacht und das Gewicht gleichmäßig auf unsere Maschine verteilt haben, fahren wir zur Registrierungsstelle in Manali, wo wir unsere Namen und die Zulassungsnummer unseres Motorrads angeben und die Gebühr für die Genehmigung zur Überquerung des Rohtang-Passes bezahlen.
Wir halten noch einmal an einer Tankstelle, um den Tank und unsere beiden Reserveflaschen zu füllen, dann können wir endlich starten. Als wir noch nicht einmal fünf Minuten unterwegs sind, hören wir hinter uns ein Hupen. Ich drehe mich um und bemerke, dass wir eine unserer Taschen verloren haben, weil sie nicht ausreichend befestigt war. Ich springe ab und sammle den Inhalt ein, der sich über die Straße verteilt hat: Lebensmittel, Schuhe etc. Wir befestigen die Tasche wieder und machen uns auf den 52 Kilometer langen Weg zum Rohtang-Pass.
Als wir die Stadt hinter uns lassen, fahren wir an vielen kleinen Dörfern vorbei, Bauern kommen uns mit Herden von Schafen, Ziegen und Kühen entgegen. Wir können jetzt die Stadt Manali überblicken, uns es ist insgesamt eine schöne Atmosphäre. Die Straße zieht sich weiter bergauf und durchquert einen wundervollen Wald, der sich mit zunehmender Höher mehr und mehr lichtet.
In unserer Richtung sind noch viele andere Jeeps und Fahrräder unterwegs, und noch mehr kommen uns entgegen. Bei jeder Begegnung gibt es ein freundliches Handzeichen, ein Winken oder einen erhobenen Daumen. Ich genieße es sehr, weil es mir das Gefühl gibt, dass wir alle Teil einer großen Gruppe sind.
Bald beginnt der kniffelige Teil der Fahrt, denn hier gibt es mehrere Abschnitte, an denen die Straße extrem schmal und nur einspurig ist. Für unser Motorrad kein Problem, aber es müssen ja auch Autos und große Lastwagen durch.
Da man in Indien links fährt, sind wir meistens auf der durch den Berghang geschützten Seite der Straße. Aber noch immer wage ich nicht, nach unten zu schauen. Ich versuche, mich auf meine Stärke und mein positives Denken zu konzentrieren, um dies zu einem schönen Erlebnis zu machen und die Landschaft zu genießen, anstatt mich wegen der Höhe zu fürchten.
Nach dieser Aufregung setzen wir unsere Fahrt fort und erreichen eine Raststation mit verschiedenen Restaurants und einem Tempel. Ein paar Leute fliegen mit Paragleitern, weil es dort eine wirklich schöne Aussicht über das ganze Tal gibt.
Glücklicherweise ist die Straße jetzt wieder breiter, aber es gibt viele Abschnitte, die nicht asphaltiert sind, was eine Menge Staub verursacht und das Fahren schwierig macht. Es regnet nicht, aber es ist ziemlich windig, und langsam wird es auch kälter. Zeit, die Handschuhe anzuziehen, denn ich kann meine Finger schon nicht mehr spüren.
Nach einer weiteren Stunde Fahrt sehen wir schließlich das Schild „Rohtang pass (Rohtangla)“ und etliche Menschen, die Fotos machen. Wir wissen, dass die Straße von jetzt an nur noch bergab führt und unser Nachtquartier nur noch etwa 20 Kilometer entfernt ist. Als wir eine Pause machen, um ein paar Fotos zu machen, ziehen wir unsere Skikleidung an, weil es plötzlich eiskalt ist – kein Wunder, wir sind auf einer Höhe von 3978 Metern!
Die Straße wird nun nach und nach schlechter, sehr uneben mit vielen Schlaglöchern, aber mit langsamer und vorsichtiger Fahrweise kommen wir durch. Nach einer Weile hören wir ein Hupen hinter uns: Wir haben wieder eine Tasche verloren. Kein Wunder auf dieser Straße! Der Motorradfahrer, der uns darauf aufmerksam gemacht hat, fragt uns, ob uns ein Schlafsack fehlt, weil er einen auf der Straße gesehen habe, ungefähr 20 Kilometer hinter uns. Es ist tatsächlich unserer. Durch das laute Motorengeräusche haben wir es dummerweise nicht gehört, und weil es schon dunkel wird, haben wir keine Zeit mehr, um zurückzufahren.
Endlich, gegen sieben, erreichen wir Koksar, ein kleines Dorf, in dem wir die Nacht verbringen werden. An der Einfahrt zum Dorf ist ein weiterer Polizei-Checkpoint, an dem wir uns registrieren müssen. Währenddessen lese ich die Warnung an der Wand: „Sie befahren gefährliche und steile Bergstraßen. Seien Sie vorsichtig und halten Sie alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen ein.“
Wir nehmen uns ein kleines Privatzimmer in der Nähe, essen ein einheimisches Gericht und ruhen uns aus.
Heute war ein großartiger Tag, umgeben von dieser fantastischen Landschaft. Und ich unternehme eine Motorradtour (obwohl ich das Motorrad bisher nicht selbst gefahren habe) – etwas, was ich über so lange Zeit ebenso gefürchtet wie gewünscht habe. Ich fühle mich so dankbar und schlafe ein, während ich den größten und hellsten Vollmond betrachte, den ich je gesehen habe.
Wundervoll!
Gute Nacht
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
[…] in einem ländlichen Krankenhaus in Nepal, reiste durch Indien, lebte mit Nomaden in der Wüste, befuhr die höchste befahrbare Straße der Welt (in Ladakh in Indien) auf einem Motorrad; das war für mich einfach der „Himmel auf Erden“, und tauchte in die Welt der Alternativen […]