Strafe und Sühne – ein Allheilmittel?

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Meinung

Rache und Vergeltung sind primitive Impulse – denen wir viel zu viel Raum geben

Schon unsere Kinder bestrafen wir für ihre kleinen Vergehen oft unangebracht streng, ohne zu bemerken, dass wir dadurch den Teufel mit dem Beelzebub* austreiben. Man kann Anstand und Nächstenliebe nicht in Menschen hineinprügeln, sondern nur vorleben – aber diese einfache Tatsache ignorieren wir seit Generationen und führen die Traditionen der Schwarzen Pädagogik** privat munter fort.

Physische und psychische Gewalt an Kindern, Tieren, Schwächeren und Außenseitern ist die Sprache, in der diese Grausamkeit weitergegeben wird.

Sie sitzt tief in unserem kollektiven Unterbewusstsein, unserem Weltbild und unseren Überzeugungen. So wichtig ist es uns, harte Strafen für bestimmte Vergehen auszusprechen, dass wir ganz übersehen, wie oft dadurch noch mehr Unschuldige zu Schaden kommen.

Zwischen Gerechtigkeit und Rache gibt es einen großen Unterschied

Der Begriff der Gerechtigkeit an sich ist schon sehr problematisch, weil wir für selbsterklärend halten, was gerecht und fair ist – bis wir darüber näher nachdenken.

Es gibt zahlreiche Beispiele für Dilemmata, die unser sonst so selbstverständliches Gefühl für Recht und Unrecht nicht lösen kann.

Soll man eine Person opfern, wenn man dafür mehrere andere retten kann? Darf man an Tieren experimentieren, um der Menschheit großen Nutzen zu bringen? Ist es gerecht, wenn jemand bei gleichem Bemühen, aber weniger Leistung trotzdem gleiche Bezahlung bekommt? Diese für unseren Gerechtigkeitssinn unklaren Situationen ziehen sich bis hinauf in die Weltpolitik und werden dort nicht etwa mit der gebührenden Ernsthaftigkeit umsichtig durchdacht, sondern ausgeschlachtet, um Emotionen zu erzeugen.

Denn gleich, ob es hier eine absolute Wahrheit gibt oder nicht: Solange wir uns nicht nur uneins sind, sondern wutentbrannt darüber streiten, lässt sich politisches Kapital daraus schlagen – mit allen hässlichen Nebenwirkungen, die wir tagtäglich weltweit beobachten können.

Zwischen Gesetz und Gerechtigkeit gibt es einen ebenso großen Unterschied

Gesetze dienen dazu, den Status Quo – auch öffentliche Ordnung genannt – zu erhalten. Weil die Versuchung, uns fremdes Eigentum anzueignen, sehr viel größer und verbreiteter ist, als etwa die Versuchung, einem Fremden den Arm zu brechen, sind die Strafen für beide Delikte ungefähr gleich hoch. Moralisch liegen zwischen Eigentumsdelikten und Gewaltverbrechen zwar Welten, vor dem Gesetz werden sie jedoch aus rein praktisch-wirtschaftlichen Gründen annähernd gleich beurteilt.

Man darf auch nicht vergessen, dass Gesetze relativ beliebig und von moralischen Grundsätzen unabhängig beschlossen werden können – das Dritte Reich hat deutlich gezeigt, dass man, ohne ein einziges gültiges Gesetz zu brechen, dennoch Massenmord begehen kann.

Wenn Strafen keine Gerechtigkeit herstellen können, funktioniert dann zumindest der Abschreckungseffekt?

Wenn es um Delikte wie Ladendiebstahl oder Vandalismus geht – unterlassen wir diese etwa nur, weil uns die angedrohte Strafe abschreckt? Nein, Respekt und Gemeinschaftssinn verbieten beides. Wem diese Eigenschaften abgehen, der lässt sich aber auch durch angedrohte Konsequenzen nicht abhalten – denn jemand anderem kein Unrecht anzutun, erfordert genau die gleiche geistige Wendigkeit, die auch nötig ist, um sich die möglichen persönlichen Konsequenzen einer Handlung mit genug Detailreichtum vorstellen zu können.

Noch blauäugiger ist das Argument der Abschreckung bei Gewaltverbrechen. Echte Triebtäter kann man mit keiner Bestrafung abhalten, ebenso wenig wie man Eifersuchtsmorde oder sonstige Affekthandlungen damit verhindert könnte. Diese Menschen handeln aus einem unkontrollierbaren Zwang oder so intensivem Zorn, dass sie seiner zum Zeitpunkt des Verbrechens nicht Herr werden können. Keine Konsequenz wäre in diesem Moment schrecklich genug, um die Vernunft noch zu erreichen.

Wie könnten sinnvollere Konsequenzen aussehen?

Bei aller Diskussion darum, wie viel Verständnis und Milde Verbrecher verdienen, steht nämlich zumindest so viel ohne Zweifel fest: Jemanden jahrelang in der denkbar schlechtesten Gesellschaft einzusperren und zu glauben, dass er dann geläutert und reuig ein besseres Leben beginne, ist eine sehr eigenartige Erwartung.

Haftanstalten sind Produktionsstätten für noch mehr Kriminalität. Gefangene werden (je nach Weltgegend verschiedentlich) gedemütigt, misshandelt und gebrandmarkt und für die Dauer ihrer Bestrafung auf vielerlei Weise symbolisch entmenschlicht …

Was für einen guten Teil von ihnen wohl nur eine Fortsetzung dessen darstellt, was die Welt ihnen ohnehin von Anfang an entgegengebracht hat. Ob das wirklich gerecht ist, halte ich im größeren Zusammenhang für diskussionswürdig, ob es irgendjemandem hilft, ist hingegen sehr eindeutig mit „nein“ zu beantworten.

Die Idee, Gefangenen ein gutes Leben mit einem gewissen Maß an Freiraum zu bieten, sie an ein normales und erfülltes Dasein heranzuführen und sie zu resozialisieren, stößt andererseits immer wieder auf heftigen Widerstand. Wo bleibt da die Sühne, wo die Befriedigung der Gesellschaft? Wo die Genugtuung für die Opfer? Statt solchen profanen Rachegelüsten in unseren eigenen Herzen Raum zu lassen, sollten wir lieber überlegen, was gut und nützlich für uns alle ist – ungeachtet dessen, ob wir vielleicht riskieren, dass dadurch jemand mehr Güte erfährt als ihm oder ihr (vielleicht) zusteht.

Freilich muss man auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Es gibt zwar sehr viel mehr Potenzial, als wir glauben – eine magische Heilung für echte Freude an Gewalt hat bislang aber noch niemand gefunden.

An vielen der erwachsenen Insassen unserer Gefängnisse ist der Schaden bereits unwiderruflich geschehen und oft nicht mehr gut zu machen. Dort, wo es jedoch möglich ist, einem durch unselige Umstände gestrauchelten Menschen einen Weg zurück in die Gesellschaft zu ermöglichen, ist es nicht nur unsere moralische Pflicht, sondern auch eine gute Investition (volkswirtschaftlich und sicherheitstechnisch), die Mittel dafür zur Verfügung zu stellen.

Selbstverständlich müssen wir geisteskranke und emotional verkümmerte Täter, die entweder nicht die Fähigkeit oder keinerlei Interesse daran haben, sich zu ändern, vom Rest von uns fernhalten (und zwar unter menschenwürdigen Bedingungen). Und selbstverständlich muss seitens eines kriminell gewordenen Menschen, der in die Gesellschaft zurückkehren will, Wiedergutmachung erfolgen – die Rede ist nicht etwa davon, dass kriminelle Handlungen keine Konsequenzen haben sollen, sondern dass diese sinnstiftend und, im besten Sinne, heilsam sein sollten.

Was wir jedoch auf jeden Fall ändern können, ist die Zukunft, die keine weiteren zerbrochenen Existenzen mehr hervorbringen müsste, wenn wir nur fest dazu entschlossen wären, es nicht mehr zuzulassen.

Der tiefere Grund, wieso Menschen überhaupt in solche Gefühlslagen geraten, ist hier von größtem Interesse, wenn wir eine echte Lösung finden wollen …

Wir brauchen eine Gesellschaft, die zuallererst genug Aufmerksamkeit für Kinder übrig hat, um sie gar nicht erst zu solch verstörten Erwachsenen heranreifen zu lassen, sondern sofort eingreift, wo Hilfe nötig ist.

Der Kreislauf der Traumatisierung muss unterbrochen werden: Eltern und Kinder brauchen Zugang zu Mediation, Hilfe und Heilung, wo auch immer sie nötig ist – insbesondere im Fall einer Trennung. Unsere Schulen müssen aufhören, glückliche Kinder in nervliche Wracks voll Versagensangst zu verwandeln. Jugendliche brauchen Perspektiven, Hoffnung, Unterstützung. Die Ressourcen dafür müssen frei gemacht werden, der gigantische Gewinn für uns alle wird die Investition tausendfach zurückzahlen, wenn wir uns gemeinsam aus dem Würgegriff der versteckten Familiendramen befreien können.

Wie viele Fälle von Burnout, Mord, Alkoholismus, Misshandlung ließen sich vermeiden? Wie viele gescheiterte Existenzen würden stattdessen zu einer Bereicherung für unsere Gesellschaft werden – wie viel behutsamer würden wir alle miteinander umgehen, und wie viel aussichtsloser wäre jeder Versuch, uns zu entzweien, in Furcht zu versetzen, oder gar in Kriege zu treiben?

Strafe und Sühne kommen uns zu schnell als Allheilmittel für alles Mögliche in den Sinn, sei es Arbeitslosigkeit, Suchterkrankung oder Unangepasstheit. Diese Art von Denken müssen wir aus unseren Köpfen verbannen und stattdessen in Kategorien der Nützlichkeit und Menschlichkeit unserer Maßnahmen denken – zu unser aller Wohl.

* Beelzebub
** Schwarze Pädagogik

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