Stimmen zur politischen Lage in der Türkei

Ilker_Podium
Politik

Veranstaltungsdaten

Datum
22. 10. 2018
Veranstalter
Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC)
Ort
Festsaal der Stadtbücherei Wien
Veranstaltungsart
Buchvorstellung und Podiumsdiskussion
Teilnehmer
Ilker Ataç, Politologe, Hochschule Wiesbaden/VIDC, Moderation
Ayşe Çavdar, Historikerin und Autorin, Istanbul/Marburg
Mithat Sancar, Jurist und Abgeordneter der Oppositionspartei HDP, Ankara
Volkan Ağar, Redakteur bei taz gazete

Am 22. Oktober 2018 wurde im Festsaal der Wiener Stadtbücherei durch das „Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation“ (VIDC) das soeben erschienene Buch „Nach dem Putsch. 16 Anmerkungen zur ’neuen‘ Türkei“ vorgestellt. Zu diesem Anlass fand eine Podiumsdiskussion zur aktuellen politischen Lage in der Türkei statt.

Michael Fanizadeh vom VIDC stellte in seiner Begrüßungsansprache das Buch vor, das die Umbrüche nach dem Putschversuch vom Juli 2016 in der Türkei analysiert und mit Beiträgen verschiedener Autorinnen und Autoren Stimmen von Menschen aus der Türkei liefert. Er wies darauf hin, dass beim Verfassungsreferendum vom April 2017 knapp 50 Prozent gegen die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan gewünschte Einführung des Präsidialsystems, die ihm eine erhebliche Ausweitung seiner Macht gab, stimmten. Die türkische Bevölkerung stehe also keineswegs so geschlossen hinter Erdoğans autoritärem System, wie das im Westen oft vermittelt werde.

Auch der Journalist Volkan Ağar, selbst einer der Autoren, ging auf das Verfassungsreferendum ein: Dabei habe es sich um die Einführung eines Präsidialsystems mit weitgehender Machtkonzentration gehandelt, das im Widerspruch zur demokratischen Gewaltenteilung steht. Die Berichterstattung im Westen würde jedoch den großen Anteil der türkischen Bevölkerung, die den Vorschlag zur Verfassungsänderung ablehnte, weitgehend ignorieren.

Mitherausgeber Ilker Ataç begann die im weiteren Verlauf in türkischer Sprache mit Simultanübersetzung geführte Diskussion mit der Vorstellung der beiden Hauptdiskutanten, die ebenso jeweils Beiträge für das Buch verfassten.

Die türkische Anthropologin und Historikerin Ayşe Çavdar stellte ihr Arbeitsgebiet vor, in dem der politische Islamismus einen wichtigen Platz einnimmt, und kam auf das Verhältnis zwischen der Regierungspartei AKP von Präsident Erdoğan und der heute von ihm verdammten Bewegung des Fethullah Gülen zu sprechen. Ein politischer Streit finde normalerweise zwischen Gruppen statt, die sich in ihren Auffassungen und Zielen unterscheiden würden.

AKP und Gülen-Bewegung sind aber zwei Teams, die die gleichen genetischen Wurzeln teilen.

Die beiden Parteien bzw. Bewegungen führten ein islamistisches Projekt zum Erfolg, würden sich nun über diesen Erfolg streiten – obwohl Erdoğan seine Partei, die AKP, nie selbst als islamistisch bezeichnet habe.

Die Wurzeln des politischen Islamismus liegen, so Çavdar, im Ende des Osmanischen Reiches unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als man dessen Erbe erhalten wollte:

Der türkische Islamismus war von Anfang an ein hegemoniales, antiimperiales Projekt.

Der Islamismus habe sich in der Türkei jedoch anders entwickelt als in den arabischen Staaten.

2002 war ich echt überrascht darüber, wie die AKP und die Gülen-Bewegung überhaupt zusammenkommen konnten,

so Çavdar. Bis 2007 habe diese Allianz tatsächlich wichtige Demokratisierungsschritte gemacht. Später sei die AKP aber zu einem Mechanismus geworden, „der Feinde produzierte: Jeder konnte plötzlich zu einem der ‚anderen‘ werden.“

Mithat Sancar, Jus-Professor und Abgeordneter der prokurdischen Oppositionspartei HDP, kam auf die politische Bedeutung des syrischen Bürgerkriegs für die Türkei zu sprechen. Eine besondere Bedeutung habe die Niederlage des Islamischen Staats (IS) in der kurdisch dominierten Stadt Kobane Anfang 2015 gehabt:1

Als der IS seine Niederlage in Kobane eingestand, ist für Erdoğan eine Säule zusammengebrochen.

Syrien sei nämlich für Erdoğans Pläne ein wichtiges Gebiet: Er habe eine „islamistische Achse“ mit islamistischen Regimen in Syrien und Ägypten geplant. Dass die kurdischen Rebellen den IS in Kobane besiegten, sei ein schwerer Schlag für ihn gewesen, daher habe er in der Folge die Kurden immer stärker angegriffen und sie in die Nähe des Terrorismus gerückt. Als Erdoğan sein Ziel einer islamistischen Achse aufgeben musste, habe er den Friedensprozess mit den Kurden innerhalb der Türkei beendet.

Ein zweiter Bruch mit der kurdischen Bevölkerung sei bei den Wahlen im Juni 2015 gekommen.

Erdoğan erwartete ja eigentlich, eine Mehrheit zu bekommen, die ihm eine Verfassungsänderung erlaubt hätte. Er suchte nach Wegen, die Macht zu monopolisieren,

so Sancar. Seine Partei, die oppositionelle HDP, wollte den Friedensprozess schützen und habe dazu beigetragen, Erdoğans Träume ins Wanken zu bringen. Erdoğans Regierungspartei AKP habe sofort nach den Wahlen ein Bündnis mit der rechtsextremen MHP und anderen Parteien geschmiedet und die HDP als nicht existent angesehen.

Sancar erzählte auch von den massiven Repressionen, denen er und seine Parteifreunde ausgesetzt gewesen seien:

Es war für Erdoğan nötig, unsere HDP mundtot zu machen, weil sie die Stimme der Pluralität war.

Außerdem habe es persönliche Gründe gegeben: Er habe seine Rivalen besiegen wollen. Bei der letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Juni 2018 habe es eine große Zahl von Manipulationen und viele repressive Maßnahmen gegeben. „Wir hatten keine Leute, die das organisieren konnten, die waren ja alle im Gefängnis.“ Trotz aller Repressionen habe seine Partei 11,7 Prozent der Stimmen erhalten, was er als großen Erfolg ansehe.

Wir sind immer noch der Hoffnungsschimmer in der Türkei!

Seiner Meinung nach, so Sancar, könne Erdoğans System nur schwer weitergeführt werden, weil es auf einer Krisensituation beruhe. „Wenn der Präsident alle Macht in seiner Hand vereint, muss er auch alle Probleme lösen.“ Erdoğan betreibe eine Politik, die über die Polarisierung der Bevölkerung führe, behaupte aber, dass er diese Polarisierung auflösen könne.

Es gibt keine demokratische Opposition in der Türkei mehr.

Die bevorstehenden Kommunalwahlen am 30. März 2019 sieht Sancar als sehr wichtige Wahlen an. Seine Partei, die HDP, strebe eine demokratische Restaurierung an, „damit wir den demokratischen Frieden und den Frieden mit dem kurdischen Volk erreichen können.“

Die Diskussion konnte mit letztlich nur zwei Teilnehmern keine wirkliche Vielfalt an Stimmen repräsentieren, zeigte aber immerhin, dass die politische Lage in der Türkei weitaus komplizierter ist, als es durch die oft stark verkürzte Berichterstattung bei uns ankommt.

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1 https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_um_Koban%C3%AA

Credits

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Ilker_Podium Ilker_Podium 1 ©Karo Pernegger