Spiritualität in der antiken abendländischen Überlieferung
Mit dem im ersten Artikel unserer kleinen Reihe „Spiritualität und Rationalität – eine Näherung“ erläuterten reflektierten Verständnis von Religiosität und Spiritualität wollen wir unsere Reise nun fortsetzen. Zur Erinnerung: Wir unterscheiden beide, insofern wir den kulturhistorisch-bedingten positiven Anteil an Brauchtum und Riten einer überlieferten Religion als je verschiedenen konkreten Ausdruck für einen allen Religionen gemeinsamen, aber abstrakteren Kern verstehen – nämlich als Ausdruck für die menschliche Beziehung zum Unbedingten, Unendlichen, Absoluten oder Göttlichen überhaupt, wie man es auch nennen mag. Die je ganz individuelle Kultivierung dieses Unendlichkeitsbezugs nennen wir Spiritualität.
Mit diesem Verständnis nun erhalten die verschiedenen überlieferten Religionen ganz ihr eigentliches Recht zurück, weil man so ihren je „heiligen“ Kern zu erfassen vermag, ohne sich von Brauchtum und Buchstabe beengen zu lassen. Biblische Passagen zum Beispiel fallen in ganz anderes Licht, wie die Rede vom „Licht, das jeden Menschen erleuchtet“ (Johannes 1.9). Es ist die Teilhabe des Menschen an der Unendlichkeit von Sinn überhaupt, die alle seine konkreten Lebensvollzüge fundiert1: das Wunder des Menschen als vollbewusster Geistträger in einem sonst vielleicht bewusstlosen Universum.
So schrieb der Überlieferung nach bereits der vorsokratische Philosoph Anaximander von dem Unendlichen (τὸ ἄπειρον, „to apeiron“) als dem Ursprung (ἀρχή, „archē“) aller Dinge (τῶν ὄντων, „tōn ontōn“): “Ἀναξίμανδρος…ἀρχήν…εἴρηκε… τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον …” („Anaximandros … archēn … eirēke … tōn ontōn to apeiron“), wörtlich: “Anaximander hat gesagt, dass das Unendliche der Ursprung aller Dinge sei.”
Der griechische Logos-Begriff, der sich so schwer übersetzen lässt, scheint mir dabei besonders geeignet zu sein, um die Unendlichkeit an Sinn zu bezeichnen, an der wir alle teilhaben. Überraschend tiefsinnig und modern ist, was der Vorsokratiker Heraklit über den Zusammenhang der menschlichen „Seele“ (ψυχῆ,“‚psyche“) mit dem „Logos“ sagte: “ψυχῆς πείρατα ἰὼν οὐκ ἂν ἐξεύροιο, πᾶσαν ἐπιπορευόμενος ὁδόν· οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει.” („psychēs peirata iōn ouk an exeuroio, pasan epiporeuomenos hodon, houtō bathyn logon echei“, Fragment 45) Wörtlich: „Die Grenzen der Seele/Psyche kannst du nicht ausfindig machen, indem du gehst, wenn du auch jeden Weg bereist: So tiefen Logos hat sie.“
Auch auf den so bekannten Beginn des Neuen Testaments fällt mit unserer neugewonnenen Einsicht über den Logos neues Licht, besonders auch auf die wohlbekannten Probleme der Übersetzung:
Geschrieben steht: « Im Anfang war das Wort! »
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muss es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Dass deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!
In Goethes „Faust“ werden die geläufigen Probleme der Übersetzung des griechischen Wortes „Logos“ wohl am prominentesten verhandelt. Von seinen Varianten sagt mir wohl „Sinn“ am meisten zu. Wie arm dagegen in diesem Zusammenhang die inzwischen klassisch gewordene Übersetzung von „Logos“ mit „Wort“ ist, die Martin Luther etablierte, sehen wir leicht, wenn wir uns dem Originaltext zuwenden und anstelle einer Übersetzung das Wort vom „Logos“ mit aller seiner unübersetzbaren Tiefe im erläuterten Sinne einfach stehenlassen: “ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ Λόγος καὶ ὁ Λόγος ἦν πρὸς τὸν Θεὸν καὶ Θεὸς ἦν ὁ Λόγος” („en archē ēn ho Logos kai ho Logos ēn pros ton Theon kai Theos ēn ho Logos“).
Auch in der lateinischen Dichtung finden sich dergleichen herausragende Stellen. Ovid schreibt in seinen „Metamorphosen“ über die Sonderstellung des Menschen: “pronaque cum spectent animalia cetera terram / os homini sublime dedit caelumque videre / iussit et erectos ad sidera tollere vultus.” („Und während gebückt die anderen Tiere die Erde betrachten, gab er dem Menschen ein erhabnes Gesicht und gebot, daß die Aufgerichteten den Himmel sehen und das Antlitz zu den Sternen erheben“). Ovid hat hier in seinen Versen die tiefe realsymbolische Bedeutung des aufrechten Ganges der Menschen verewigt. So einfach ist „zu den Sternen“ zu sehen, und so konkret, und doch bezeichnet es zugleich die ganze unendliche Tiefe des menschlichen Geistes, die ihre Entsprechung findet in der Unendlichkeit des Weltalls.
Damit wollen wir unseren kurzen Blick in die Überlieferung der europäischen Antike aber vorerst auch schon beschließen. Es war mir freilich nur eine sehr kleine Auswahl möglich. Auch soll mein interpretatorischer Zugang nicht suggerieren, dass allen Urhebern der aufgewiesenen Passagen selbst alle mögliche allgemeinmenschliche Tiefenbedeutung so ausdrücklich bewusst gewesen wäre, wie wir es dargestellt haben. Ähnlich ist es ja auch oft in den verschiedenen Konfessionen.
Ich hoffe davon einen kleinen ersten Eindruck vermitteln gekonnt zu haben, auch wenn ich nur auf den europäischen Kulturkreis zurückgreifen konnte, in dem ich mich etwas auskenne. Dieser Gang in die europäische Antike sei aber nur eine Art von Ursprungsversicherung gewesen, ehe wir im Fortgang unserer Reihe zu Spiritualität und Dichtung uns vermehrt einigen Dichtern deutscher Sprache zuwenden wollen.
1 Vgl. hierzu Johannes Heinrichs: Integrale Philosophie. Sankt Augustin 2014, S. 40ff.
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Infinity_hexagonal_axonometric | Nevit Dilmen | CC BY-SA 3.0 |
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