Sind wir nicht alle Junkies?

Sind wir nicht alle Junkies?
Meinung

Innere Leere als Volkskrankheit

Im vorigen Artikel haben wir uns damit befasst, wer anfällig für selbstzerstörerisches Suchtverhalten ist. Da (aus Gründen, die gerade in Westeuropa tief verwurzelt sind) die wenigsten von uns als Kinder mit dem richtigen Mix an Eigenverantwortung und Unterstützung in ihrer Entwicklung gefördert und bedingungslos geliebt wurden, sind wir das allerdings praktisch alle – wenn auch in sehr verschieden starker Ausprägung. Perfiderweise sind gerade die besonders Unausgeglichenen unter uns oft sehr erfolgreich, weil sie, von Ehrgeiz getrieben, alles daran setzen, ihre Umwelt zu beeindrucken, während ihr Leben hinter den Kulissen ein Scherbenhaufen ist.

So lange sich alle an dieser großen Illusion beteiligen und den psychischen Zustand einer Person nach deren finanziellen Gegebenheiten beurteilen, teilt sich unsere Gesellschaft in ewig Übersehene und scheinbare Gewinner ohne echte Freude, deren Leben inauthentisch und krank, aber auf Hochglanz poliert ist. Kein Wunder also, dass Ablenkung, Realitätsflucht und Suchtverhalten Hochkonjunktur haben.

Je nach finanziellen Möglichkeiten und Gemüt können unsere kleinen Fluchtwege aus der Realität oder unsere Belohnungen sehr verschieden ausfallen und müssen auch nicht notwendigerweise großen Schaden anrichten. Vieles eignet sich als Droge, es müssen nicht immer psychoaktive Substanzen sein.

Die alltäglichsten Süchte sind als solche teils noch nicht lange erkannt und so sehr in unsere Lebensart eingebunden, dass die meisten von uns sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen könnten (und ist das nicht genau Symptom für Sucht?). Kaffee, Schokolade, raffinierter Zucker und (tatsächlich!) Käse regen allesamt das gleiche Hirnareal an, das auch beim Gebrauch der härtesten Drogen reagiert. Auch im Weizen ist ein Stoff enthalten, der die selbe Andockstelle in unseren Rezeptoren nutzt wie Opiate – weshalb viele von uns mit Verstopfung, aber auch mit Gier auf mehr Weizenprodukte reagieren.

Über die gesundheitlichen Folgen von übermäßigem Genuss dieser Stoffe gibt es zahlreiche Bücher (und viel Streit), fest steht aber: Davon loszukommen, wenn man es denn versucht, ist alles andere als einfach, auch weil unser gesamtes soziales Umfeld so davon durchtränkt ist. In dieser Hinsicht haben es Suchtkranke im herkömmlichen Sinne übrigens ähnlich schwer: Ihnen sind meist keine Freunde außerhalb ihrer Szene geblieben, so dass auch für sie Widerstand im Freundeskreis ein stark bremsender Faktor ist.

Legale Drogen

Schon sehr viel eher als Droge anerkannt sind legale, aber stark abhängig machende Substanzen wie Alkohol und Nikotin. Ihre Schädlichkeit ist unumstritten, und im Falle von Alkohol kommt eine weitere starke psychische Komponente dazu, die den Ausweg noch schwieriger macht:

Wer Alkohol missbraucht, bleibt durch die Flucht vor seinen Problemen in der persönlichen Entwicklung nicht nur stehen, sondern macht sogar Rückschritte. Mit steigendem Konsum und den damit zwingend einhergehenden Verschleierungsversuchen geraten die Betroffenen in einen zunehmend paranoideren und gereizteren Grundzustand, während Leber und Hirn unaufhaltsam weiteren Schaden nehmen und ihre Leistungsfähigkeit verlieren.

In Folge dessen wird es noch schwerer, das Problem zu erkennen und abzulegen.

Substanzungebundene Abhängigkeiten

Hier ist die besondere Schwierigkeit, dass die Grenze zwischen normalem Verhalten und Sucht besonders stark verschwimmt und die negativen Folgen sehr lange verborgen bleiben und verleugnet werden können. Jeder freut sich, hin und wieder etwas Neues anzuschaffen, aber eine alarmierend hohe Zahl von Menschen haben jede Kontrolle über ihr Einkaufsverhalten verloren und verschulden sich hoffnungslos, während sich noch ungetragene Kleidung, technische Spielereien oder gar vollkommen nutzloser Firlefanz in ihrer Wohnung stapeln.

Die einen werfen hin und wieder einen Blick ins Internet oder unterhalten sich gelegentlich mit einem guten Spiel oder Film, andere erleiden Herzinfarkte, weil sie tagelang ohne Pause in den Bildschirm starren und dabei vergessen, Wasser zu trinken. Die Liste an Beispielen lässt sich noch lange fortsetzen, von Sucht nach Anerkennung, nach sexuellen Eroberungen oder Sammelwut … sobald etwas zur Obsession wird, sind wir bereit, dafür alles andere stehen und liegen zu lassen.

Und doch gibt es kein Extrem, das nicht mit etwas Unterhaltsamem, Lebensbejahendem begonnen hätte. Wer nämlich von allem Unvernünftigen fernbleibt, verhält sich erst recht zwanghaft. Zwar erreicht man möglicherweise ein hohes Alter, wenn man von Schonkost lebt und auf jegliches Abenteuer verzichtet – hier würde ich allerdings eher von Dauer als von Leben sprechen.

Esssucht, Bulimie und Anorexia sind dem Suchtproblem ebenso verwandt wie der unwiderstehliche Drang nach immer mehr Schönheitsoperationen, den man bei vielen Menschen verfolgen kann. Selbst neurotische Zwangshandlungen, die von liebenswerten kleinen Ticks bis hin zur Pflegebedürftigkeit gehen können, kommen aus derselben Quelle – wie stark die Ausprägung ist und welchen Weg ein Mensch geht, hängt aber von vielen Faktoren ab und soll hier nicht unser Thema sein.

Adrenalinjunkies

Auch die Sucht nach dem Adrenalin-Kick durch eine riskante Sportart wie etwa Fallschirmspringen ist hier zu nennen, wobei diese meist intensive körperliche Betätigung Bewunderung und Gruppenzugehörigkeit mit sich bringt und – sofern das Abenteuer nicht in Tod oder Invalidität endet – die Rettung sein kann, weil es einen klaren Kopf und Zugehörigkeitsgefühl mit sich bringt.

Pech hat, wer beschließt, sich seine Kicks durch Aktivitäten wie Raufereien, illegale Autorennen oder gar Diebstahl, Einbrüche oder Überfälle zu holen. Sei es, dass die unbeaufsichtigten jungen Menschen in falsche Gesellschaft geraten, sei es der Mangel an vorgelebten Werten aus dem Elternhaus, sei es fehlende Impulskontrolle, gepaart mit fehlender Empathie – hier ist in jedem Falle ein trauriger Weg vorgezeichnet.

In Summe kann man sagen, dass – allen Vorurteilen zum Trotz – suchtkranke Menschen an keiner speziellen Charakterschwäche leiden, sondern das Potenzial für Abhängigkeiten aller Art scheinbar zur Grundausstattung unseres Gehirns gehört. Selbst Verzicht kann zur Besessenheit werden.

Der Unterschied zwischen harten Drogen und alltäglichen Gewohnheiten ist kleiner, als wir denken, und so sollten wir uns glücklich schätzen, wenn unsere Süchte gesellschaftlich akzeptiert sind, und etwas Mitgefühl für jene kultivieren, die sich über schlimmere Probleme mit härteren Substanzen zu trösten versuchen.

Credits

Image Title Autor License
Sind wir nicht alle Junkies? Sind wir nicht alle Junkies? Patryk Kopaczynski CC BY-SA 4.0

Diskussion (2 Kommentare)

  1. Sind wir nicht alle ein bisschen … BLUNA?

    well written, thx!

    1. Thx, much appreciated! Und jupp… mich dünkt wir sind :D… aber ein bisschen Bluna (Ich frag mich bis heute, wonach das Zeug wohl geschmeckt hat?) ist hier eh der richtige Ansatz… a little humor goes a long way to save the day!