Science Talk: Identität und ihre Bedeutung
Veranstaltungsdaten
- Datum
- 20. 3. 2017
- Veranstalter
- Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft
- Ort
- Aula der Wissenschaften
- Veranstaltungsart
- Science Talk - Podiumsdiskussion
- Teilnehmer
- Elisabeth J. Nöstlinger-Jochum, Moderation
- Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Christian Aigner, Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikations- forschung, Universität Innsbruck
- Mag. Dr. Andrea B. Braidt, MLitt, Vizerektorin für Kunst und Forschung der Akademie der bildenden Künste Wien
- Postdoc-Ass. Dr. Simone Caroline Egger, M.A., Institut für Kulturanalyse, Universität Klagenfurt
- Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Gendermedizinerin, Medizinische Universität Wien, Wissenschaftlerin des Jahres 2017
Zum wiederholten Male fand am 20.3.2017 in der Aula der Wissenschaften die Veranstaltungsreihe „Science Talk“ statt. Das diesmalige Thema war: „Jede/r ist alles?! Wie Identitäten entstehen und welche Bedeutung sie haben“. Zur Diskussion am Plenum eingeladen waren Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Christian Aigner (Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung, Universität Innsbruck), Mag. Dr. Andrea B. Braidt, MLitt (Vizerektorin für Kunst und Forschung an der Akademie der bildenden Künste Wien), Postdoc-Ass. Dr. Simone Caroline Egger, M.A. (Institut für Kulturanalyse, Universität Klagenfurt) sowie Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer (Gendermedizinerin, Medizinische Universität Wien, Wissenschaftlerin des Jahres 2017), die dieser Einladung gern gefolgt waren.
Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Elisabeth J. Nöstlinger-Jochum (Ö1), die mit der Frage an Prof. Aigner eröffnete, wie Identität zu verstehen sei.
Einleitung und Definition
Dieser erinnerte sich im Rahmen des Themas an seine vor 37 Jahren abgefasste Dissertation, die Identitätsbildung zum Thema hatte. Es sei schön, kurz vor Beendigung seiner universitären Laufbahn nochmals zum Anfangsthema zurückzukehren. Sein damaliges Thema seien die entfremdenen Mechanismen der Gesellschaft und Arbeitswelt gewesen. Er fände es wichtig, den Begriff bei dieser Diskussion mitzuführen,
so Prof. Aigner.
Prof. Kautzky-Willer als Gendermedizinerin äußerte sich zur Geschlechtsidentität aus der Sicht der Gendermedizin. Diese Wissenschaft beruhe bekannterweise auf dem biopsychosozialen Konzept. Sie persönlich würde Identität als die einzigartige Gesamtheit einer Person beschreiben, welche sich aus Teilidentiäten zusammensetze, die durch die Selbstwahrnehmung geprägt seien.
Diese Bereiche, so Prof. Kautzky-Willer, seien aus ihrer Erfahrung untrennbar verwoben und würden dazu über die gesamte Lebensspanne interagieren. Wissenschaftlich spiegele sich dies im Gebiet der Epigenetik wider – Umwelt könne die Biologie (den Körper) verändern, was sogar vererbbar sei. Natürlich gebe es auch Prägungsphasen, die aus biologischer Sicht besonders bedeutsam seien (z.B. Schwangerschaft, frühe Kindheit sowie Pubertät). Identität könne auch als Zugehörigkeit zu Gruppen mit ihren bestimmten Merkmalen verstanden werden, so Prof. Kautzky-Willer. Diesbezüglich sei das Geschlecht das prägnanteste Merkmal.
Fr. Postdoc-Ass. Egger gab aufgrund ihres wissenschaftlichen Hintergrundes an, Identität aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive zu betrachten. Die bereits genannten Aspekte seien für sie im übergeordneten Zusammenhang von Interesse, so Egger. Ausgehend von der Biografie sei von einer Vielzahl uns prägender Aspekte auszugehen. Es sei ein Kennzeichen der Postmoderne, uns mit einer Vielzahl an Möglichkeiten teilweise zu verwirren, zu verunsichern, uns mitunter voneinander zu entfremden, aber uns auch ganz neue Möglichkeiten zu eröffnen. Neben den angeborenen geschlechtlichen Merkmalen betonte sie insbesondere die Bedeutung des angeborenen Milieus und der Familie.
Die Geschlechtsidentität
Von Frau Mag. Dr. Braidt begehrte Fr. Nöstlinger-Jochum zu wissen, ob Künstler eine spezielle Identität hätten. In der Kunst, so Mag. Dr. Braidt, sei die Krisenhaftigkeit von Identität schon lange Thema. Bezugnehmend auf die bereits gefallenen Ansätze ging sie auf die Performativität insbesondere der Geschlechtsidentität ein. Diese sei in den frühen 90er-Jahren von Judith Butler entworfen worden und gehe ebenfalls davon aus, dass Identität prozesshaft sei und immer wieder neu hergestellt werden müsse.
Das Ultraschallbild lege nicht fest, “ob männlich oder weiblich”. Die Männlich- bzw. Weiblichkeit müsse postnatal immer wieder in affirmativen Prozessen hergestellt werden. Daran beteilige sich die gesamte Umgebung der Kinder (Eltern, Kindergärten etc.), aber auch der Mensch selbst (durch Kleiderwahl etc.). Weiters gehe es darum, welche Art von Weiblich- bzw. Männlichkeit wir immer wieder herstellen würden. Wichtig sei festzustellen, dass diese Prozesse nur zum Teil bewusst abliefen.
Künstler, so glaube sie, würden zum Teil ganz gezielt und bewusst ihre Identitätsperformanzen einsetzen.
Die medizinische Bedeutung eines nicht eindeutig festlegbaren Geschlechts wurde von Fr. Prof. Kautzky-Willer erläutert. Sie sei bereits froh, wenn das Geschlecht in der Medizin berücksichtigt werde und eine geschlechtssensitive Behandlung erfolge. Bei den meisten Menschen passen hormonelles, genetisches und emotionales Geschlecht mit den äußeren und inneren Geschlechtsmerkmalen überein. Es gebe aber auch kleine Variationen diesbezüglich sowie Intersexualität. Wie bereits erwähnt, sei sie bereits froh, wenn bei Medikamentenwirkungen in der Behandlung das Geschlecht wahrgenommen werde. Es gebe hier für unterschiedlichste Erkrankungen wesentliche Unterschiede. So sei dieses Wissen beispielsweise bei Transgender-/Genderdysphorie sehr bedeutsam.
Mag. Dr. Braidt gab zu bedenken, dass der Leidensdruck nicht nur durch innere, sondern auch durch gesellschaftliche Erwartungen entstehen könne. Die Gesellschaft ginge häufig von idealtypischen Normvorstellungen von Identitäten aus. Entspreche eine Person dieser Norm nicht, hätte sie früher oder später in unterschiedlichen Ausprägungen darunter zu leiden. Gerade bei Geschlechtsidentität sei dies enorm tragend – dies merke man an seiner eigenen Verunsicherung, wenn man eine Person sehe, bei der das Geschlecht nicht eindeutig klar sei.
Derzeitig sehe man sich im Laufe des “Non-Binary Universities Project” die unterschiedlichen binär gegenderten Dinge an den Universitäten an – bestes Beispiel seien hier natürlich die Toiletten, bei denen man sich für die eine oder andere Tür entscheiden müsse. Einige Menschen würden sich jedoch nicht entscheiden wollen – hier gäbe es stark normierende Regularien.
Modeerscheinung Transgender?
Frau Prof. Kautzky-Willer widersprach in diesem Zusammenhang Frau Mag. Dr. Braidt – die Toleranz sei beinahe “in”, es bestehe die Gefahr, dass dies spielerisch verwendet werde. Es gebe einen enormen Anstieg an Jugendlichen, welche die Transgenderambulanz aufsuchen würden. Neun von zehn Besuchern würden jedoch primär die Pubertät durch geschlechtsangleichende Medikamente unterbrechen wollen und strebten gar nicht primär eine geschlechtsangleichende Operation an.
Dies sehe man auch an androgynen Models und Figuren wie Conchita Wurst; es handele sich auch um eine Modeerscheinung, so Prof. Kautzky-Willer. Auf Nachfrage von Fr. Nöstlinger-Jochum gibt sie an, dass mehr Mann-zu-Frau-Umwandlungen bei Adoleszenten durchgeführt würden als umgekehrt.
Prof. Aigner stimmte mit Fr. Prof. Kautzky-Willer aus psychotherapeutischer Sicht überein. Die tatsächlichen Transgender-Personen spürten bereits sehr früh, dass etwas “nicht stimme”. Dieser von Anfang an bestehende Druck löse hohes Leiden aus. Es fehle bis heute die Körperlichkeit sowohl in der Medizin als auch der Psychotherapie (d.h. es gebe noch keine Körpertherapie). Er teile es auch nicht, dass die Identität immer neu herzustellen sei. Sie sei immer neu auszubalancieren (wie Erik Erikson es postuliert habe).
Die Beliebigkeit, dass alles immer neu herstellbar/änderbar sei, teile er nicht, dies habe vielmehr eher mit Entfremdung zu tun.
Frau Mag. Dr. Braidt widersprach Hr. Prof. Aigner diesbezüglich stark.
Frau Prof. Kautzky-Willer griff dieses Thema auf und berichtete, dass früher bei Verletzungen des Penis während Phimoseoperationen oft eine künstliche Vagina geformt und das Kind anschließend als Frau erzogen worden sei. Anschließend habe das Kind alle Umwelteinflüsse einer weiblichen Erziehung bekommen, als wäre es immer schon weiblich gewesen. Es gebe hier auch ein berühmt gewordenes Beispiel zweier Zwillingsbrüder, von denen einer anschließend als Mädchen aufgezogen worden war. Er sei jedoch sein Leben lang unglücklich gewesen (ohne diesen Hintergrund zu kennen) und habe sich schließlich suizidiert. Dies bestätige, dass das Geschlecht offensichtlich nicht nur konstruiert sei.
Die Identität der Heimat
Fr. Postdoc-Ass. Egger bezeichnete auch die Heimat als beweglich, man müsse sich dies ebenfalls als Prozess vorstellen. Abseits der Thematik Transgender sei ja auch das binäre Mann-Frau-System stark in Bewegung geraten. Dies beinhalte Überlegungen, wie sich Männer verhielten, was Männlichkeit bzw. Weiblichkeit heute bedeute. Frauen hätten ja auch heute andere Berufsbiografien, müssten stärker mobil sein. So stelle sich die Frage, wo man sich zugehörig fühle, was Heimat bedeute. Dies könnten auch Freunde sein; hier sei das Smartphone auch als wichtiges Tool zu sehen, welches es ermögliche, ein Netz an Heimat aufrechtzuerhalten.
Flucht sei ebenfalls ein zentrales Thema – schließlich handele es sich um 60 Mio. Menschen auf der Suche nach Heimat, die eine extreme Identitätskrise erlebten. Die Flüchtlinge müssten es neu mit sich aushandeln, wer sie in der neuen Gesellschaft seien, welche Werte hier wichtig seien etc.
Hr. Prof. Aigner widersprach diesen Annahmen mit dem “Kern-Selbst” aus der selbstpsychologischen Theorie des Wieners Heinz Kohut. Er postuliere, dass jeder Mensch mit einem Kern-Selbst, einem Potenzial zur Entfaltung, auf die Welt käme. Dieses beinhalte bereits alle Möglichkeiten dieser Person. Die Binarität sei mittlerweile verflüssigt, so Aigner.
Die Bedeutung von Bildung
Laut Fr. Prof. Kautzky-Willer gebe es trotz Veränderbarkeit eine gewisse genetische Basis. Der Lebensstil könne jedoch viel beeinflussen und gewisse Vor- oder Nachteile der Genetik ausgleichen. Die epigenetischen Einflüsse spielten hier auch eine Rolle, die Sexualhormone hätten Einfluss auf alle anderen Hormone, man wisse jedoch diesbezüglich noch zu wenig. Natürlich spiele die Biologie eine große Rolle, es gebe eine “Ausstattungsbasis”. Die durch die Umwelt bereitgestellten emotionalen und sozialen Ressourcen spielten jedoch hier ebenfalls stark mit. Wichtig sei ebenfalls, ob mit einer Person gelernt, geübt, sie gefördert werde. Die geschlechtlich unterschiedlichen Leistungen gingen ja oft auf eine unterschiedliche Förderung der Fähigkeiten zurück, so Kautzky-Willer.
Laut Fr. Postdoc-Ass. Egger habe Bildung einen zentralen Wert für die Identitätsbildung. Die Frage, in welches Milieu man geboren werde, welche Bildung man erfahre, habe natürlich einen großen Einfluss. Bildung sei ein fundamentaler Schlüssel, beispielsweise, ob man Zugang zu einer entsprechenden Schulbildung habe.
Prof. Aigner fragte daraufhin, ob dies bedeute, dass mit höherer Bildung die Identität steige? Fr. Postdoc-Ass. Egger widersprach, die Frage sei, ob es ein Angebot gebe – natürlich könne ein Flüchtlingskind im Libanon durch fehlende Schulbildung bzw. Kindergarten eine Förderung seiner Kreativität erfahren. Möglicherweise werde dieses Kind auch durch seine Eltern stark in seiner Identitätsbildung unterstützt. Im Gegensatz könne ein österreichischer Grundschüler, der wenig Bestärkung durch seine Eltern erhalte und zusätzlich durch die Lehrerin verwirrt werde, bereits in der zweiten Klasse eine Identitätskrise erleiden. Natürlich spielten unterschiedliche Faktoren zusammen, aber von Bedeutung sei die Möglichkeit, unterstützt und gefördert zu werden in dem, was man am besten könne.
Authentizität
Fr. Nöstlinger-Jochum lenkte das Thema dann auf die Existenzialisten, denen beim Thema Identität auch Authentizität sehr wichtig gewesen sei. Auf die Frage nach dem Umgang mit Authentizität innerhalb der Genderstudies entgegnete Fr. Mag. Dr. Braidt, dass insbesondere die Übernahme und Vereinnahmung des Schimpfwortes “queer” (dt. “Schwuchtel”) als Selbstbezeichnung durch die Lesben- und Schwulenbewegung das Schimpfwort kraftlos gemacht habe. Das Wort habe dadurch aufgehört beleidigend und authentifizierend zu sein.
Prof. Aigner bezeichnete Authentizität als “das Maß der Freiheit, in dem man Identität leben kann”. Dies beinhalte, sich nicht anpassen zu müssen, um Anerkennung zu erhalten.
Laut Fr. Mag. Dr. Braidt habe ein Teil der feministischen Theorie Authentizität als ein Privileg der Männlichkeit entlarvt. Weiblichkeit beinhalte das Aufrechterhalten einer weiblichen Maskerade, wozu Frauen zum Teil verdammt seien. Prof. Aigner widersprach dieser Aussage als einseitige Ideologie; in der psychoanalytischen Therapie habe er sehr viele Verbiegungen bei Männern gesehen, auch zu ihrem gesundheitlichen Leidwesen.
Fr. Mag. Dr. Braidt gab schließlich an, Authentizität habe sehr viel mit Entspanntheit zu tun. Es gehe darum, einfach zu sein, ohne sich viel Gedanken machen zu müssen. Hier hakte Fr. Postdoc-Ass. Egger ein: Das Gefühl verstanden zu werden, entspannt zu sein, sei ebenfalls ein Marker für Heimat.
Nach diesem sehr passenden Schlusswort wurde noch dem Publikum die Möglichkeit gegeben, einige Fragen zu stellen.