Russland nach den Parlamentswahlen
Veranstaltungsdaten
- Datum
- 28. 9. 2016
- Veranstalter
- Renner Institut
- Ort
- Karl Renner Institut, Gartenhotel Altmannsdorf (Hotel 1)
- Veranstaltungsart
- Podiumsdiskussion
- Teilnehmer
- Pjotr Fedosov, unabhängiger Politikwissenschafter
- Peter W Schulze, Professor für Politikwissenschaft
- Elena B Shestopal, Leiterin Lehrstuhl für polit. Soziologe und Psychologie, Moskau
- Jutta Sommerbauer, Außenpolitik-Redakteurin "die Presse"
- Alexander Dubowy, Moderator, Forschungsstelle für Eurasische Studien, Uni Wien
Über die Gründe, warum die Wahlbeteiligung bei nur knapp 48 Prozent lag, waren sich die Diskutanten einig: Der Wahltermin direkt nach der Sommerpause trug ebenso dazu bei wie der kurze, maue Wahlkampf mit wenigen Skandalen und ohne größere Proteste. In Moskau und St. Petersburg lag die Wahlbeteiligung sogar weit unter 40 Prozent. Dieses Fernbleiben der Städter, die traditionell liberal wählen, führte zum überwältigenden Sieg von Putins Partei Einiges Russland. Der Großteil der anderen Parteien, die den Einzug geschafft haben, kann als Systemopposition bezeichnet werden: Sie erkennen die geltenden Spielregeln und Machtverhältnisse an, was man auch daran sieht, daß alle Parteien, die den Einzug in die Duma mit Parteistatus geschafft haben (und das sind nur vier), für eine Vorverlegung der Wahlen gestimmt haben. Zu dieser Systemopposition zählen die rechtsextreme Partei LDPR Wladimir Schirinowskis, die auf Platz drei landete, ebenso, wie die Kommunisten der KPRF. Nur die liberalen Parteien Jabloko und Parnas haben laut Pjotr Fedosov das Ziel, das System nachhaltig zu verändern, blieben aber jeweils klar unter 5 Prozent. Damit haben sie das Problem, daß sie auf Grund ihrer geringen Größe keinen Parteistatus erlangt haben und somit keine finanzielle staatliche Unterstützung erhalten. Hinzu kommt, daß durch die letzte Reformierung des Wahlrechts die private Finanzierung von Parteien stark eingeschränkt wurde. Eine gemeinsame Kandidatur mit anderen Kleinstparteien scheiterte an den zu unterschiedlichen Ansichten. In den kremltreuen Medien wurden die beiden Parteien als Nationalverräter dargestellt. Die Fortschrittspartei von Alexei Nawalny wurde zu den Wahlen gar nicht erst zugelassen.
Der klare Erfolg von Einiges Russland kam für manche überraschend, denn seit den letzten Wahlen hat sich die wirtschaftliche Situation dramatisch eingetrübt, was man am Verfall des Rubel ablesen kann. Doch der Krimkonsensus, also die Zustimmung der Bevölkerung zum eigenen Vorgehen auf der Halbinsel, führte laut Fedosov zu einer Konsolidierung der russischen Gesellschaft um Putin. Die Sanktionen des Westens trugen ihr übriges dazu bei.
Frau Shestopal hebt die personelle Revolution hervor, die sich in den letzten Monaten in den russischen Machtzirkeln abgespielt hat. Sieht man sich die Liste der Gouverneure an, so fällt auf, daß drei der acht Posten im Juli diesen Jahres neu besetzt wurden. Auch Sergej Iwanow, Chef der mächtigen Kremlverwaltung, mußte im August seinen Hut nehmen und wurde durch den bisherigen Stellvertreter und Japanologen Anton Waino ersetzt. Dieser Elitenwechsel war schon seit Längerem geplant, da viele leitende Politiker bereits in die Jahre gekommen sind und Putin sich vor allem von strengen Nationalisten trennen will. Das Problem ist allerdings, daß es laut Shestopal zu wenig Auswahl für Putin gibt. Das immer noch auf Korruption basierte System ist ineffektiv und verhindert den Aufstieg für viele fähige Personen. Der in Russland zu beobachtende Effekt, daß die Mitarbeiter wenig bis nichts arbeiten, wenn ihre Chefs ausgetauscht werden, soll damit umgangen werden, daß auf einen Schlag viele Posten neu besetzt werden, wie im Sommer diesen Jahres geschehen. Peter W. Schulze hält es für möglich, daß diese Umstrukturierungen darauf hindeuten, daß Vladimir Putin nächstes Jahr bereits einen Nachfolger präsentiert – ein Kandidat wäre Alexej Djumin.
Die Russen sehen sich laut Shestopal in echten Gefahren – sei es die Wirtschaftskrise, sei es das Heranrücken der NATO an ihre Grenzen, sei es der Terror. Die Politikwissenschafterin erklärt dieses Gefühl nicht als Ergebnis der Propaganda, sondern als durch die realen Entwicklungen ausgelöst. Die Bevölkerung ist politisch demobilisiert und nur noch an den Präsidentschaftswahlen interessiert – deshalb die geringe Wahlbeteiligung.
Auf die Gründe für die Vorverlegung der Wahlen geht Peter W. Schulze gesondert ein: Er sieht die einsetzende Erodierung der sozialen Situation sowie die wirtschaftlichen Aussichten als zentral an. Das Budget steht im Herbst an, und nachdem der russische Reservefonds seit 2009 (damals war er mit 560 Milliarden Dollar gefüllt) drastisch reduziert wurde – durch Zuzahlung bei Renten, sozialer Unterstützung und Infrastrukturprojekten – und in sechs bis zwölf Monaten komplett aufgezehrt sein könnte, werden für die Budgetverhandlungen Steuererhöhungen und Einschnitte im Sozialbereich erwartet. Im Frühsommer gab es in vielen Regionen erste Streiks, die allerdings kaum medial präsent waren. Weiters haben die westliche Wirtschaftssanktionen zu Preissteigerungen für viele Produkte geführt. Die diese Effekte abfederne Importsubstitutionspolitik der russischen Regierung bezieht sich lediglich auf Nahrungsmittel. Die Einnahmen aus Ölexporten sind angesichts des abgestürzten Ölpreises – im Budget ist eine Marke von 80 Dollar veranschlagt, momentan stehen wir bei 50 Dollar – stark zurückgegangen. Dieses Problem kennen wir auch aus Saudi-Arabien.
Russland und Europa
Im Außenverhalten Russlands gibt es laut Schulze erkennbare Veränderungen. Russland ist in der internationalen Politik zurück – ob Syrien, Iran, Ukraine oder Kaukasus. Die Chancen auf Gebiets- und Einflußgewinne sind allerdings bereits erschöpft, somit ist dieses Erfolgsmodell Putins – Russland wieder in der Weltgemeinschaft zu verankern – als Machtbasis an seiner Grenze angelangt. In Deutschland sieht Schulze nur mehr die SPD und die Linke auf Ausgleich mit Russland bedacht, die Grünen sind unter den heftigsten Russlandkritikern.
Das Verhältnis zwischen der EU und Russland ist angesichts der Ukrainekrise und den damit verbundenen Sanktionen angespannt. Mit dem Antritt von Abgeordneten der Krim bei der Duma-Wahl (zB die im Internet berühmt gewordene Natalia Poklonskaja) ist die Annexion der Halbinsel in den Augen vieler Russen schon institutionalisiert. Die EU ist zudem in interne Konflikte verstrickt und sucht noch ihren Weg, wie sie mit China (siehe die Neue Seidenstraße), Zentralasien und auch Russland umgehen soll.
Wie die meisten Diskussionsteilnehmer ruft auch Igor Fedosov zur Entspannung mit Russland auf. Die Sanktionen stärken vor allem Putins innenpolitische Position. Sie schränken zwar den Geldzugang sowie den Zugang zu technischen Entwicklungen für Russland ein, doch könnte dies zu unberechenbaren politischen Entwicklungen führen, die Europa nicht gutheißen kann. Außenminister Steinmeyers Vorschlag, die Sanktionen Schritt für Schritt zurückzufahren, stieß in Deutschland und Europa auf wenig Gegenliebe. Entscheidend sei es, den Propagandakrieg auf BEIDEN Seiten zu beenden und die Zivilgesellschaft, zB über den wieder aufgenommenen Petersburger Dialog, zu stärken.
Deutschlands Ostpolitik nach 2009 ist für Peter Schulze der Hauptgrund für die Abkehr Russlands von Europa. Putin und Medwedew hätten Europa mehrfach Angebote zur Zusammenarbeit gemacht – man erinnere sich an Putins Ansprache im deutschen Bundestag 2001. Doch Deutschland habe sich vor allem seit 2009 (US hardliner: „Die deutsche Außenpolitik muß geschleift werden“) den Interessen der USA verschrieben, was zu einer Neuorientierung Russlands geführt hat, die über die BRICS-Staaten und die Eurasische Union spürbar geworden ist. Die Kampagne gegen Russland wird vor allem von den Balten, den Schweden, den Dänen, den Briten und den Polen betrieben. Die USA selbst müsse gar nicht mehr in Europa eingreifen, das angestrebte ruling from within sei erreicht, wenn man Politik und Medien innerhalb der EU beobachtet. Steinmeyer kämpfe zwar noch gegen diese Politik an, aber das „intelligente Umgehen mit den Sanktionen“ – womit er meinte, daß es keinen Sinn habe, die Sanktionen an die Minsker Vereinbarungen zu binden, da beide Seiten diesen Vertrag regelmäßig brechen würden – hat ihm wenig Freunde eingebracht, schon gar nicht bei den Leitmedien. De facto würde es schon reichen, wenn ein Staat bei der nächsten Abstimmung sein Veto gegen die Verlängerung der Sanktionen einlegt.
Die bekannten und in manchen Fällen (Front National, AfD) belegten finanziellen Verbindungen Russlands zu rechtsgerichteten Parteien in europäischen Ländern treffen in den russischen Medien auf positiven Widerhall. Marine Le Pen sei beliebt, auch wenn ihr bei den Präsidentschaftswahlen kein gutes Ergebnis zugetraut wird.
Die angeblich von Russland gestarteten Hackerangriffe gegen die USA, die nach Ansicht der amerikanischen Geheimdienste den laufenden Wahlkampf beeinflussen sollen, könnten in Zukunft zu größeren Auseinandersetzungen führen, denn die NATO hat ihre Beistandspflicht auf Cyberangriffe ausgeweitet.
Die intensive Diskussion über westliche und russischen Medien – vor allem zwischen Jutta Sommerbauer und Peter W. Schulze – offenbarte die unterschiedliche Sichtweise über neutrale Berichterstattung und staatlichen Einfluß – und die Überzeugung vieler westlicher Journalisten, daß die Propaganda im Westen wesentlich schwächer ausgeprägt sei, als in Russland. Der Einwand, Schulzes Studenten haben in diversen Diplomarbeiten die westliche Propaganda untersucht und seien zu einem erschreckenden Ergebnis gekommen, wurde mit heftigem Kopfschütteln quittiert.
Credits
Image | Title | Autor | License |
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Russland nach den Wahlen | Christian Janisch | CC BY-SA 4.0 | |
Duma-Wahlen 2016 | Christian Janisch | CC BY-SA 4.0 |
Ja, stimmt – der Sieg von Einiges Russland wunderte mehrere Russen. Herr Schulze, mit dem ich seit 2013 dank der Sommerschule in Kaliningrad bekannt bin, schreibt Artikel und drueckt Meinung aus, die sich vorteilhaft von all dem, was aus dem Westen vorkommt, unterscheiden. Ich traeume von der Zeit, als mehrere Leute in Deutschland und Europa auf solche Weise denken.
Hallo Elena. Ich bin mit Herrn Schulze wegen der erwähnten Diplomarbeiten in Kontakt und gespannt auf deren Ergebnisse.
Alles in allem ist es momentan die wichtigste Aufgabe, auf beiden Seiten (leider muß man das momentan so ausdrücken) diejenigen in der Zivilgesellschaft und auch in der Politik zu stärken, die den Ausgleich suchen (zb ein Herr Platzeck in Deutschland, der ein weit besserer Präsident wäre, als es Gauck jemals war).
Hallo Christian, warum verwendest auch du den „Kampfbegriff“ Annexion? Auch wenn das Referendum auf der Krim gegen die ukrainische Verfassung verstieß (was wiederum eine Reaktion auf den verfassungswidrigen Sturz Janukowitschs in Folge des mit faschistischen Kräften durchgeführten Sturms aufs Kiewer Parlament war) war es völkerrechtlich eindeutig eine Sezession.
Hallo Derbert ! Soweit ich das bisher sehe, ist der Anschluß völkerrechtlich noch nicht geklärt. Ebenso wie die Ereignisse in Kiew, an deren Beginn mMn keine faschistischen oder ausländischen Kräfte mitwirkten (was sich im Verlauf der Ereignisse geändert hat).
Grundsätzlich versuche ich, bei solchen Veranstaltungs-zusammenfassungen das Wording der Vortragenden zu verwenden und meine persönliche Sicht hinanzustellen, was mir allerdings nicht immer gelingt. 🙂
Hallo lieber Christian
Leider muss ich dir bezüglich dem Sturzes Janukowitschs wiedersprechen, „das es nicht Fakt ist das von außen geputscht wurde“.
1. Zum ersten mal sprach Georg Friedmann bei der „The Chicago Council on global affairs 2015“
https://youtu.be/QeLu_yyz3tc genau über die Einmischung und den Putsch von außen durch die USA.
2. gab Obama bei einem CNN- Interview zu und spricht ganz offen über den von der USA geführten Putsch in der Ukraine. Auf die Frage der Journalistin. Obama: „Natürlich haben wir in der Ukraine geputscht……“ Leider werden solche Interviews (in englisch), nicht in Europa gezeigt und auf Deutsch übersetzt. Nur durch meine Schwester die in den Staaten lebt, bekomme ich immer wieder Info´s über die Abendnews. Und Ironischer weise sind die US- Nachrichten oft viel kritischer mit sich selbst (USA) als unsere westlichen Medien.
3. wurde ca. 2 Monate vor dem Putsch mehrere Paletten US-Dollar, ohne Transportpapiere von der österr. Nationalbank nach Wien-Schwechat verbracht um sie wie gesagt ohne Transportpapier mit einem Flug in die Ukraine zu fliegen. „Und die waren nicht für die damalige noch intakte Regierung bestimmt.“ Ob diese als US- Diplomaten Post liefen bin ich noch am recherchieren.
4. Und viertens: Wenn zwei Millionen Menschen etwas beschließen hat keine Politik das recht zu sagen dass das keine Gültigkeit hat. Nur weil wir Gesellschaftzombies unsere demokratischen recht nicht mehr wahr nehmen, und alle Entscheidungen der Politik schlucken.
5. In Syrien waren es 10.000 Rebellen die gegen die Denkrichtung von26. Millionen Menschen Exekutivbeamte ermordet haben, Und die wurden ganz brav von unserer westlichen Politik mit Geld und Waffen Unterstützt. Als Ergebnis über eine halbe millionen Toter. Russland hat nur die Abstimmung dieser2 Millionen ernst genommen, und hat sie anerkannt.
Hallo TVRay. Ich meinte die Studentenproteste zu Beginn. Da gibt es ja genügend Bildmaterial und auch eine verständliche Empörung gegen das System Janukowitsch (das sich leider nicht verbessert hat, deshalb ist Poroshenko ja fast genauso unbeliebt) bzw gegen das gesamte politische und wirtschaftliche Korruptionssystem der Ukraine. Was später passierte ist natürlich eine andere Angelegenheit. Aber der Funke für all das wurde mMn nicht im Ausland gelegt
Syrien ist auch etwas komplexer als viele glauben. Du hast recht, daß sich der Westen dort eingemischt hat, genauso wie regionale Mächte. Ich war gestern bei einem Vortrag über den Jemen (Zusammenfassung folgt), dort wurde auch klar, wie kompliziert diese Auseinandersetzung ist. Ähnlich ist es in Syrien. Die einfache Schuldzuschiebung ist mMn schwierig, wenn man es Ernst meint.
…der funke nicht vom Ausland gelegt…? das sehe ich nicht so, Victoria nuland hat sehr wohl zugegeben, dass seitens der us bzw. „ngo´s“ 5 mrd us-Dollar „investiert“ wurden. und das wirklich auslösende Moment des putsches (und nix anderes ist ein absetzen eines gewählten staatsoberhauptes, noch dazu mit bewaffneten Truppen im Parlament aufzumarschieren) war das „assoziierungsabkommen“ zwischen eu und ukraine, das auch ein militärisches Bündnis beinhaltet hat. und das konnte janukowitsch, der sich auch einem großen russischen Anteil aus der ostukraine verpflichtet fühlte nicht zustimmen. und die krim ist insofern „eindeutig“ völkerrechtlich geklärt, dass es eine Sezession war, wie sie zb auch im Kosovo sehr wohl „legitim“ war. natürlich hat das Referendum gegen die ukrainische Verfassung verstoßen, aber das hat der putsch eben auch, also war es sicher nur eine Reaktion. dass dies Putin nicht gemacht hat, weil er die krim-Bevölkerung so lieb hat, sondern aus geopolitischen Überlegungen, steht auf einem anderen blatt. und ja, ich respektiere dass du die Meinung der veranstalter wiedergibst, dennoch kann man auch etwas relativieren, diese Anmerkungen stehen dir ebenfalls frei. lg