Prof. Mag. Bernhard Heinzlmaier: Zukunftsängste und retrotopisches Hoffen (Zukunftskonferenz 2021)
Unter- und Mittelschicht werden die Coronapandemie und deren Folgen zu bezahlen haben – mit dieser These eröffnet der Jugendkulturforscher Prof. Bernhard Heinzlmaier seinen Vortrag bei der Zukunftskonferenz 2021.
Seit mehreren Jahren führt sein Marktforschungsinstitut regelmäßig Jugendwertstudien durch. Die (global gesehen) zunehmende Ungleichheit der vorherrschenden Klassengesellschaft zeigt sich laut Heinzlmaier auch schon bei den Jugendlichen. Das obere, akademische Drittel der Gesellschaft bestimmt die Diskussion; die Mittel- und die Unterschicht hört großteils nicht mehr zu oder wird von den Instrumenten der Oberschicht gecancelled und verfolgt, sobald eine vom Narrativ abweichende Meinung vertreten wird. Eine Allensbach-Studie zur Meinungsfreiheit zeigt, dass die Mehrheit der Deutschen meint, man könne seine politische Meinung nicht mehr frei äußern, ohne Repressalien zu erleiden.
Die heutige Jugend „hofft retrotopisch“: d.h. sie hoffen darauf, dass sich die positiv gesehene Vergangenheit (Wirtschaftswunder etc) wiederholt; utopisches Denken, das Veränderungen anstößt, ist nicht mehr en vogue. Man will so leben, wie in den Erzählungen der Eltern – und nicht im Dauerdruck der heutigen, neoliberalen Gesellschaft.
Die bürgerliche Mitte der Gesellschaft wird heute ständig medial mit Abstiegsangst bedroht, um sie gefügig und arbeitsam zu machen/halten. Täglich muss man sich neu beweisen, die Besten werden prämiert, während der Rest nichts bekommt. Dies ist die Logik des digitalen Kapitals (Amazon, Facebook etc), das Klassenkampf von oben betreibt und ein dereguliertes Marktsystem implementieren will, auf das Politik keinen Einfluss mehr ausüben kann.
Das Phänomen der Helikopter-Eltern erklärt sich daraus, dass Eltern der Oberschicht ihre Kinder vor sozialem Abstieg bewahren wollen: sie schicken sie unter großen finanziellen Mühen in teure Ausbildungsstätten, denn dies scheint für viele die beste Absicherung gegen sozialen Abstieg zu sein. Zeitgleich versucht man, Bewerber aus der Mittel- und Unterschicht von guter Ausbildung fernzuhalten, zB mittels Einstiegstests an den Unis. Heutige Jugendliche sind schon so stark selbst kontrolliert, dass sie sich gegen die herrschenden Zustände gar nicht mehr auflehnen, sondern versuchen, sich (meist mit massiver elterlicher Hilfe) bestmöglich anzupassen.
Die wichtigste Sozialisationsinstanz für Jugendliche ist die Gleichaltrigengruppe. In der Coronakrise wurden viele Jugendliche auf Grund des social distancing in ihrer Entwicklung massiv gehemmt, während gleichzeitig der Zugriff der Eltern auf das Leben ihrer Kinder stark gestiegen ist, was zu zusätzlichen Spannungen geführt hat – dies umso stärker, je beengter die Wohnverhältnisse sind. Der Fehler der Politik war, die Coronakrise nur aus medizinischer Sicht zu beurteilen, und nie auf die psychologischen, kulturellen und ökonomischen Aspekte Rücksicht zu nehmen. Bis heute fehlen Untersuchungen und Maßnahmen diesbezüglich.
Das Optimismus-Pessimismus-Paradoxon, die unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen in Deutschland und Österreich, die politische Einordnung der Zukunftspessimisten, die neue Rolle der Linken als Verteidiger des Konformismus und die Wiedererstarkung des Nationalismus sind weitere Themen dieses spannenden Vortrags.
Das Motto der Zukunftskonferenz 2021: Für die Beendigung der Profit-Maximierung und eine radikale Grunderneuerung der Gesellschaft: ethisch, sozial, ökologisch, ökonomisch und politisch – Weil es anders geht!
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Heinzlmaier – Zukunftsaengste und retrotopisches Hoffen | Wolfgang Müller | CC BY SA 4.0 |