Neurobiologie für Eltern
Aus meiner Sicht kann Beziehung (ich mag das Wort Er-ziehung nicht) nur gelingen, wenn man einander auf Augenhöhe begegnet; ja, auch schon mit einem Baby, auch einem Kind in der Trotzphase oder mit Puber-Tieren, wie ich meine eigenen Kinder, die Jugendliche sind, liebevoll nenne. Es ist völlig egal, wie alt ein Mensch ist, meiner Meinung nach muss jeder jedem gegenüber auf Augenhöhe agieren, um ein wertschätzendes Miteinander überhaupt gestalten zu können. Bei einer Beziehung mit einem deutlichen Altersgefälle liegt es natürlich an dem Erwachsenen durch sein Verhalten die Grundlage für Gleichwertigkeit herzustellen.
Und da sind wir auch schon bei einem der beiden Leitsätze, die ich für eine gelungene Bindung und Basis eines harmonischen Familienlebens oder Arbeitsklimas für so wichtig erachte. Dieser lautet: „Ich kann von einem Kind nichts erwarten, was ich nicht selbst bereit bin zu tun.“
Jeder Mensch hat Dinge, die er besonders gern macht, manche ganz gern, manche mäßig gern und manche überhaupt nicht gerne, dabei sogar jede Gelegenheit nutzt, diese zu vermeiden. Nun weiß der Erwachsene, dass es wichtig ist, dass das Kind etwas tut, was es aber nicht mag. Zum Beispiel Lesen üben. Das Kind wird alles Erdenkliche tun, beginnend mit Prokrastinieren bis hin zu Ersatzhandlungen, um die unliebsame Tätigkeit zu vermeiden. Da ist es auf einmal unerlässlich, die Anzahl der Steckperlen zu zählen oder die Blüten, die beim letzten Spaziergang vor zwei Wochen gesammelt wurden, im dicken alten Lexikon von Tante Elfriede zu pressen. Wie einfallsreich Kinder werden können!
Nun hat man als Erwachsener verschiedene Möglichkeiten, mit dem Widerstand des Kindes umzugehen:
- So tun, als hätte man selbst auf das Lesen vergessen. Das ist dem Leseerfolg nicht zuträglich.
- Androhen, dass etwas Unangenehmes passieren wird oder dass etwas Angenehmes nicht passieren wird, wenn nicht gelesen wird. Dem Leseerfolg auf andere Weise eben so wenig zuträglich, weil negativer Druck aufgebaut wird und Botenstoffe, die durch unangenehme Gefühle erzeugt werden, aktiviert werden.
- Das Kind ermahnen, dass es nicht Steckperlen zählen, sondern lesen soll – „idealerweise“, während man selbst am Handy surft. Auch das ist dem Leseerfolg nicht zuträglich, weil die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, dass das Kind es tut.
- Beim Pressen der Blüten helfen, dabei aber ausmachen, dass danach gelesen wird. Das ist schon deutlich besser, sofern die Vereinbarung konsequent, aber liebevoll durchgesetzt wird. Allerdings wird dabei das, was das Kind gerne macht, gemeinsam gemacht und das, was es gar nicht mag, muss es selbst bewältigen.
- Gemeinsam lesen. Zuerst dasselbe Buch zusammen. Dann jeder sein eigenes.
Variante 5 ist mit Abstand am erfolgreichsten. Zum einen muss sich das Kind nicht aus eigener Kraft überwinden, sondern an die Aktion, in dem Fall das Lesen – es könnte genauso gut Zimmer aufräumen, Müll rausbringen, Hausaufgaben machen oder eine andere der so beliebten Freizeitbeschäftigungen von Kindern sein – wagt man sich gemeinsam ran. Die Begleitung der Bezugsperson mildert in der Regel den Widerstand und das Kind zeigt sich deutlich kooperativer. Abgesehen davon hat es mehr Spaß bei der Sache.
Ist das einmal geschafft, geht man zu Schritt zwei über. Jeder der beiden macht die gleiche Tätigkeit aber jetzt eben für sich. Beim Beispiel Lesen sitzt man gemeinsam aneinander gekuschelt da und jeder liest in seinem eigenen Buch. Die Vorzüge dieser Vorgehensweise sind auf den ersten Blick nicht deutlich sichtbar, aber auf lange Sicht ergeben sie insofern Sinn, weil nämlich die Spiegelneuronen des Kindes feuern, wenn es sieht, wie die Bezugsperson die Handlung ausführt.
Spiegelneuronen sind Nervenzellen im Gehirn, die dann aktiv werden, wenn man einen anderen Menschen dabei beobachtet, wie er etwas tut. Wobei es nicht notwendigerweise das tatsächliche Tun sein muss, auch das Vorstellen genügt. Die Spiegelneuronen sind dem prämotorischen Cortex, also dem Teil des Großhirns zuzuordnen, der das Planen von Handlungen übernimmt.
Und gerade durch die Spiegelneuronen lernen wir eine ganze Menge. Konfuzius wusste vielleicht noch nichts von Nervenzellen im Neocortex, aber schon er wusste, wie Lernen funktioniert:
„Was du mir sagst, das vergesse ich.
Was du mir zeigst, daran erinnere ich mich.
Was du mich tun lässt, das verstehe ich.“
Die Spiegelneuronen können nur beim Zuschauen aktiv werden. Die Handlung dann selbst eigenständig durchzuführen, verfestigt die Funktion in den prämotorischen Bereichen. Bei häufiger Wiederholung, manifestiert sich das Können, im Idealfall wird es irgendwann automatisiert.
Nun gibt es aber auch Beschäftigungen, die Kinder ganz von selbst machen, die sie immer dann machen, wenn sie frei wählen könne. Sie brauchen also nicht für alles, was sie lernen sollen, eine Bezugsperson, die etwas mit ihnen gemeinsam macht. Aber sie machen nur das von selbst, was ihnen Spaß macht. Neurobiologisch gesehen, sind es jene Tätigkeiten, die zu ihrer individuellen Vernetzung im Großhirn am besten passen. Was gut vernetzt ist, macht Spaß. Aber ohne Spaß keine Motivation. Daraus kann man schließen: Was nicht von selbst leicht gelingt, wird auch nicht freiwillig geübt.
Das bringt mich zu meinem Leitsatz Nummer 2: „Ich will nicht = ich kann nicht.“
Aus meiner Sicht ist dieser noch viel wichtiger als der Erste – insofern nämlich, als sich im Volksmund hartnäckig die leider völlig falsche Meinung hält, dass sich Widerstände und Entwicklungsdefizite „auswachsen“, also durch das Älterwerden irgendwann von selbst verschwinden. Das tun sie aber leider nicht. Eher ist das Gegenteil der Fall. Allerdings scheint es bei manchen Kindern eine Besserung von selbst zu geben, da sie durch gute Intelligenzleistung Kompensationsmöglichkeiten finden, um ein Problem auf ihre Art zu lösen. Oder später, wenn sie alt genug sind, selbst zu entscheiden, vermeiden sie unbeliebte Tätigkeiten, suchen sich zum Beispiel einen Beruf, in dem unliebsame Aufgaben nicht zum Arbeitsfeld gehören.
Warum sich Schwierigkeiten nicht von selbst legen, ist leicht verständlich, wenn man weiß, wie Lernen funktioniert. Sich ein bisschen mit Neurobioloie auszukennen, kann also für frisch gebackene Eltern recht nützlich sein. Aus neurobiologischer Perspektive bedeutet Lernen einfach nur einen konstanten Aufbau von Neuronenpopulationen im Cortex. Verständlicher ausgedrückt: Es bilden sich durch Reize wie sehen, hören, greifen, schmecken etc. Nervenbahnen und Vernetzungen im Großhirn. Jedes Kind kommt schon mit rund 100 Milliarden Nervenzellen auf die Welt. Im Gegensatz zu größeren Kindern oder Erwachsenen, sind sie nur lose miteinander verbunden. In den nächsten 12 Monaten verdreifacht das Kind seine Gehirnmasse von ursprünglich ca 250g auf etwa 750g. Das tut es dadurch, dass es lernt und dabei „Neuronenpopulationen aufbaut“. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden gefestigt. Jedes Mal, wenn ein bekannter Reiz beim Baby auftrifft, beispielsweise ein bestimmtes Kinderlied an sein Ohr gelangt, nimmt er denselben Weg über die Nervenbahnen. Je öfter die Bahn verwendet wird, desto massiver kann sie sich ausbauen. Im Fall des , die vom SPD-Wirtschaftsforum herausgegeben wurden, über neue Ideen für Markt,Kinderliedes hilft es dem Baby, das Lied bald wiederzuerkennen, wenn es dieses hört. Später kann es den Text auswendig nachsingen.
Ein besonders musikalisches Baby wird im Fall des oben erwähnten Kinderliedes oder eines Rhythmus durch eine in sich gut veranlagte Vernetzung schneller Verknüpfungen anlegen als ein Kind, dessen Vernetzung ursprünglich sehr lose ist. Verknüpfungen bilden sich bei jedem Kind. Sie bilden sich aber nicht, wenn kein Reiz auf das Kind einwirkt. Das Kind, das Musik betreffend gute Vernetzungen hat, wird Kinderlieder lieber hören. Es hat an Musik mehr Spaß. Das Kind mit sehr losen Vernetzungen im Hinblick auf Musik wird an denselben Kinderliedern vermutlich weniger Freude haben. Während das erste Kind möglicherweise einem inneren Antrieb folgend von selbst motiviert zum Rhythmus wippt, nimmt das zweite Kind die Musik vielleicht nur passiv als Hintergrundgeräusch wahr. Damit sich die Verbindungen im Cortex festigen, braucht das zweite Kind deutlich mehr Anregungen, um die Musik interessant genug zu empfinden, um auch den Drang zu verspüren, sich dazu zu bewegen. Wird das zweite Kind kaum oder gar nicht mit Kinderliedern in Berührung kommen, dann treffen auch keine entsprechenden Reize auf es ein. Der Wunsch sich zur Musik zu bewegen, wird sich somit nicht entwickeln.
Nun werden junge Eltern immer wieder gewarnt, ihr Kind nicht mit anderen Kindern zu vergleichen, ihm nach der Empfehlung von Emmi Pickler Zeit für die eigene Entwicklung zu geben und nicht aktiv zu forcieren oder einzugreifen. Was also nun?
Es stimmt, jedes Kind darf seine eigene Zeit brauchen, um Dinge zu lernen. Außerdem erlegen Vergleiche nicht nur dem Kind, sondern seiner ganzen Familie einen ziemlichen Druck auf. Das ideale Mittelmaß ist, sein Kind eben nicht mit einem oder mehreren anderen Kindern zu vergleichen, aber sich an den durchschnittlichen Fähigkeiten der Altersgruppe zu orientieren. Werden die essentiellen Meilensteine der frühkindlichen Entwicklung in der richtigen Reihenfolge und etwa zur üblichen Zeit erreicht, ist es nicht nur nicht notwendig, sondern sogar schädlich, dem Kind beispielsweise aktiv sitzen oder gehen beizubringen. Das kann es von ganz allein. Überspringt ein Kind aber wichtige Stufen oder ist deutlich verzögert gemessen am Durchschnitt, ist es notwendig, genau das, was das Kind vermeidet oder was ihm keinen Spaß zu machen scheint, immer wieder anzubieten und gemeinsam zu erleben, damit seine Spiegelneuronen feuern können, sich also ein Verständnis für die Planung der Handlung ausbilden kann. Nur auf diese Weise können sich die Verbindungen bilden, die eine altersentsprechende Entwicklung zulassen. Ich denke in dem Fall in erster Linie an Aufgaben wie das Schneiden mit der Schere, die richtige Stifthaltung, das Ausmalen ohne Linien zu übermalen und ähnliches. Wer erkennt, dass sein Kind solcherlei Aufgaben absichtlich vermeidet, ist im Sinne des Kindes gut beraten, genau das, was den Widerstand erzeugt, immer wieder gemeinsam miteinander auf spielerische und geduldige Art und Weise anzubieten. Nicht aus Boshaftigkeit, um sein Kind zu ärgern, sondern um rechtzeitig Wege des kindlichen Nervensystems anzubahnen und Spiegelneuronen zu aktiveren.
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