Nachtschicht : “Sabri’s Geschichte”
Nachdem ich mich am Tag zuvor an dem friedlichen Protest beteiligt habe (siehe Link oben) und Euch davon erzählte, und ich diese besondere Energie in der Luft gespürt habe, ist es heute soweit, meine erste Nachtschicht anzutreten und durch nächtliche Gespräche mit einem meiner Patienten mehr über ihn, seine Herkunft und sein Land zu erfahren. Ich danke ihm dafür.
Heute war ich für eine Nachtschicht eingeteilt – von Mitternacht bis 08.00 Uhr in der Früh – zusammen mit einer Ärztin aus Pakistan.
Als wir in der Klinik angekommen sind, wurde uns erklärt, dass ein junger Pakistaner – 17 Jahre alt – über Nacht hierbleiben würde, da er sehr “gefährdet” gewesen sei. Er hätte versucht, sich mit einer Rasierklinge Schmerzen zuzufügen und eine ganze Schachtel Antibiotika auf einmal zu schlucken. Man bemerkte einfach, dass er ein dringendes Bedürfnis hatte, mit jemand zu reden – zum Glück war meine pakistanische Kollegin vorort.
Wir haben alles Mögliche versucht, damit er sich im Aufenthaltsraum ausruht, aber vergebens: Er wollte eigentlich nur mit uns plaudern – und da konnten wir natürlich nicht Nein sagen.
Er erzählte von seiner Familie, von seinem Bruder und von seiner Mutter und sprach davon, dass es in Pakistan keine Zukunft gäbe; dass er in Europa zum ersten Mal in seinem Leben Menschlichkeit spürte und dass das Leben in Pakistan sehr gefährlich sei – da es viele Terroristen gäbe. Seine Reise – von Pakistan nach Europa – habe ca. einen Monat gedauert und er habe jahrelang dafür gespart, aber sich auch viel Geld von Verwandten und Freunde geliehen. Außerdem, das weiß man, versprechen die Schmuggler den Flüchtlingen, dass es in Europa überhaupt kein Problem sei, eine Arbeit zu bekommen – sie verschönern sozusagen den “Westen” und machen falsche Versprechungen.
Sein Ziel war es gewesen, nach Italien zu kommen.
Einige Tage zuvor hatte Sabri versucht, mit der Fähre von Lesbos nach Athen zu fahren, jedoch war es für ihn nicht möglich, da er nicht offiziell in Griechenland registriert werden konnte – diese Regel gilt übrigens für alle Pakistaner. Er hatte sein Geld verloren und wurde sofort wieder zurück in das Camp geschickt.
In dieser Nacht wurde mir bewusst, wie sehr die Temperaturen während der Nacht sinken. Zum Glück verfügten wir über zwei Heizkörper, die uns warm hielten, ansonsten wäre es kaum auszuhalten gewesen. Es ist für mich unbegreiflich, wie die armen Menschen draußen mit einem Schlafsack in einem Zelt schlafen können.
Plötzlich klopfte es an die Tür: Es waren die Freunde des jungen Mannes. Sie wollten auch in unserem Zelt übernachten. Wir haben sie hereingeholt und ihnen Tee gebracht. In der Zwischenzeit konnten sie sich bei der Heizung aufwärmen. Übernachten durften sie nicht bei uns, da der Raum für Patienten freigehalten werden musste.
Nachdem wir schon alles fertig geputzt und aufgeräumt hatten und bereit waren, uns kurz in dem Entspannungsraum zu begeben, klopfte wieder jemand an die Tür – ein Mann stand vor uns, Blut rann ihm das Gesicht runter und er war sehr verwirrt. Wir haben ihn erstmals reingeholt, ihn neben das Feuer gesetzt – er war sehr unterkühlt und am Zittern – und wir säuberten seine Wunde.
Der junge Herr war aus Afghanistan und da wir kein Farsi sprachen, mussten wir einen Übersetzer holen – er war innerhalb von ein paar Minuten vorort. Mit Hilfe des Übersetzers haben wir herausgefunden, was passiert war: Der Mann litt an Epilepsie und hatte während der Nacht, als er zur Toilette ging, einen Anfall erlitten. Er wurde bewusstlos, als er mit seinem Kopf irgendwo aufschlug und verbrachte die ganze Nacht draußen in der Kälte. Alle seine Medikamente hatte er auf der Bootsreise von der Türkei nach Griechenland im Meer verloren ..
Eigentlich lebte er im offiziellen Camp, aber da die Ärzte ohne Grenzen ihre Klinik erst um 09.00 morgens aufmachten, kam er zu uns. Er war sehr besorgt, da seine Familie nicht wusste, was mit ihm passiert war oder wo er sich im Moment gerade befand. Wir haben sofort jemand vom anderen Camp kontaktiert, damit sie seine Familie verständigen konnte.
Zum Glück war dem jungen Mann nichts Schlimmeres passiert.
sehr traurige geschichten! zum glück haben sie dich als guardian angel 🙂