Mit einem Bein am Boden
Es ist sehr wichtig zu betonen, dass das, was ich hier erzähle, nicht die Realität von Marokko ist. Die Realität von Marokko ist das, was du erfahren wirst, wenn du dort hinfährst. Mir ging es so, weil ich bis oben hin aufgeladen war mit verschiedenen Gefühlen, die ich nicht auf gesunde Art verarbeitet hatte. Versteht also meine Geschichten bitte als Bericht einer Reise zu mir selbst und nicht als ein Reisetagebuch für Marokko mit konkreten Tipps!
(aus: Der Mensch produziert Chaos)
Als ich wieder mein Hostel erreicht hatte, zitterte ich noch immer. Also trank ich einen Schluck Wasser, öffnete mein Notebook und ließ meinen Frust mit mir selbst herausfließen.
Ich bin so ängstlich, dass es lächerlich ist. Ich bin extrem angespannt; ich gehe raus auf die Straße, und wenn ich mich selbst durch die engen Gassen gehen sehe voller Verkäufer von Fleisch, Obst, Oliven, Shampoo und all den anderen Waren, springt mir fast das Herz aus der Brust. Ich mache bei jedem Geräusch einen Satz und gehe in eine Abwehrhaltung, wenn ein Mann etwas zu einem Freund sagt, weil ich glaube, dass er mich attackieren will. Es ist lächerlich.
Ich bin über mich selbst entsetzt, weil ich so überängstlich bin. Wenn ich ganz einfach da rausgehe, was könnte mir schlimmstenfalls passieren? Sie könnten mir was klauen, mehr aber auch nicht.
Mein Problem ist, dass ich nicht sicher bin, ob mir die Polizei helfen würde, wenn mir etwas Schlimmes passiert; ich weiß nicht, wie die Leute um mich herum reagieren würden, weil ich weiß und ein Mädchen bin … Ich habe keine Ahnung, ob sie einfach gar nichts machen oder mir doch helfen würden. Wie auch immer, ich bin nicht bereit, es auszutesten!
Vielleicht fühle ich mich aber auch auf diese Art, weil ich spüre, dass es Zeit ist, sich niederzulassen, um mich selbst zu sammeln und meine Kräfte und meine Gedanken zurück zu erlangen. Ich fühle mich, als sei ich zersplittert in all die vielen Orte, die ich gesehen und erlebt habe. Nun muss ich von all diesen Erfahrungen, die ich in meinem Herzen behalten möchte, etwas nehmen und mich selbst daraus formen, und das ein bisschen besser als zuvor. Ich fühle mich, als sei ich eine Vielfalt aus Farben, Gesichtern, Menschen, Ländern, also keine wohlgeformte Einheit.
Ich habe den Eindruck, ich beschäftige mich so viel mit meinen eigenen Gedanken, dass es meinen ganzen Tag beeinträchtigt. Ich fühle mich immer noch nicht wohl dabei, heute noch einmal alleine rauszugehen. Morgen werde ich über mich selbst hinwegkommen; heute nicht mehr. Heute will ich all diese Dinge fühlen, die ich erlebe, um mich selbst zu verstehen und um mir darüber klar zu werden, wie und warum es zu diesen Gefühlen gekommen ist. Ich möchte mich selbst nicht von diesen negativen Gefühlen leiten lassen. Ich möchte mit einem leeren Blatt beginnen und darauf schreiben, und nicht mit einer vollgeschriebenen Seite und dann kommentieren, was ich für wahr und für unwahr halte.
Ich werde gehen und mich meinen Ängsten stellen.
Ich werde nicht wissen, wie das ist, bevor ich es erlebe, richtig?
Marrakesch, am 1.3.2017.
Nachdem ich mir dies gesagt hatte, beruhigte ich mich ein wenig. Nach ungefähr einer halben Stunde kam der Rezeptionist und fragte mich nach dem Geld für die Unterkunft. Sein Chef war da und wollte eine Erklärung, warum ich noch nicht gezahlt hätte. Jetzt gab es keine Ausreden mehr, ich musste rausgehen. Ich hatte noch immer Angst, aber nicht mehr so viel wie am Morgen. Glücklicherweise waren da ein paar Jungs, die zum Essen rausgingen. Ich schloss mich ihnen an und fragte sie nach ihren Erfahrungen in Marokko.
Wir gingen ungefähr zehn Minuten lang zusammen, dann zeigten sie mir meinen weiteren Weg und verabschiedeten sich. Ich fühlte mich bereits zuversichtlicher und entspannter.
Ich war so dumm, aber es gab mir ein so gutes Gefühl! Nachdem ich wieder Geld hatte, stoppte ich auf dem Rückweg an einem Obststand, und weil ich sehr hungrig war, kaufte ich eine wahnsinnig leckere Frucht als Mittagessen und etwas extra süßes Baklava und ging zurück zum Hostel.
Als ich ankam, war ich so dümmlich stolz auf mich! Es war eine Errungenschaft in die richtige Richtung, es war ich im Aufbau – wie an allen anderen Tagen, aber dieser war ein bisschen intensiver. Es war in jedem Fall keine große Verbesserung in meinem Leben, doch an diesem Tag bedeutete es die Welt für mich. Es war ein Teil meines Selbst, den ich bewusst formte.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake