Migrationsforschung in Österreich – Dr. Judith Kohlenberger
Die Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Dr. Judith Kohlenberger ist diesmal unser Gast bei Reiner Wein und beschreibt zu Beginn ihren Forschungsschwerpunkt Fluchtmigration, den man auf dem ersten Blick nicht der Wirtschaftsuniversität, an der sie arbeitet, zuordnen würde.
2015 war auch für Kohlenberger ein prägendes Jahr, da sie sich seitdem intensiv mit der Fluchtmigration beschäftigt: eine Gruppe an Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen begann damals damit, demographische Daten zur damaligen Flüchtlingswelle zu erheben – etwas, das bis dahin nie umfassend gemacht wurde. Tausende face-to-face Befragungen wurden durchgeführt, bei denen der sozioökonomische Hintergrund der Geflüchteten in der jeweiligen Landesprache erhoben wurde. Von da an war Kohlenbergers weiterer akademischer Weg vorgezeichnet – zumal sie selbst aus einer Grenzregion im Burgenland stammt.
Szenen wie damals, wo tausende Menschen unkontrolliert und chaotisch über die Grenze gekommen sind, hätten sich verhindern lassen, da sich eine Fluchtbewegung schon längst angekündigt hatte – die monetären Kürzungen des World Food Programs als Hauptauslöser waren jedem Regierungschef bekannt – und man die Logistik wesentlich besser hätte organisieren können. Resettlement Programme, wie sie zb Kanada anwendet, hätte man auch rechtzeitig in Europa implementieren können.
Auch während der Ungarnkrise 1956 gab es sowohl Hilfsbereitschaft, also auch Angst – und auch damals war die Bevölkerung gespalten, und ähnliche Narrative wie 2015 wurden gepflegt (kulturelle Unterschiede etc).
Manche Nationalregierungen in Europa seien nicht an der Lösung der Migrationsfrage interessiert, so Kohlenberger, da sie politisch davon profitieren. Deshalb gibt es auch keine Lösung auf EU Ebene. Die Vorschläge, die Rechts der Mitte seit 2015 präsentiert werden – Abschottung, Abschreckung und Auslagerung auf Drittstaaten – haben keinen Erfolg gebracht, auch weil sie kaum umsetzbar sind. Die gezielte Vermengung von Migration mit illegalem Grenzübertritt (also Kriminalität) negiert den Fakt, dass es keine Möglichkeit gibt, um auf legalem Weg um Asyl ansuchen zu können (Asylparadox). Die Angst vor Migration habe sich mittlerweile in der gesamten Gesellschaft ausgebreitet. Die Rhetorik mancher Politiker hält diese schwelende Bedrohung immer am köcheln, liefert aber nie wirkliche Lösungen und trägt zur negativen Konnotation bestimmter Begriffe wie „Migrant“ bei.
In der Coronakrise ist die europäische Bevölkerung nicht nur dank der Übersterblichkeit auf Grund des Virus, sondern auch dank ausbleibender Migration geschrumpft. Dies ist dahingehend sehr bedenklich, da viele Migranten in systemerhaltenden Berufen (Erntehelfer, Lieferdienste, Pflege) tätig waren und jetzt fehlen.
Das EU-Türkei-Abkommen wird in der Wissenschaft ambivalent beurteilt: 2016 war es eine aus der Not geborene, funktionable Lösung, die zum Rückgang der Migration geführt hat. Aber viele der damals implementierten Teilaspekte des Abkommens wurden nie voll inhaltlich umgesetzt: so zB wurden jene syrischen Flüchtlinge, die in Griechenland einen legalen Aufenthaltstitel erworben haben, bis heute nicht auf die EU Mitgliedsstaaten aufgeteilt.
Die katastrophale Situation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln, zivilgesellschaftliche Bewegungen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, die Wichtigkeit der EMRK, die Hysterisierung von Krisen und die politische Instrumentalisierung von Flüchtlingen (siehe Weißrussland) sind weitere Themen dieses Gesprächs, dass von Michael Winkler geführt wurde.
Credits
Image | Title | Autor | License |
---|---|---|---|
Judith Kohlenberger | Wolfgang Müller | CC BY SA 4.0 |