Meine Ängste besiegen
Die Reise von Lukla nach Namche Bazaar
Ich wache auf, und ein schneller Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass es bereits 9 Uhr in der Früh ist. Ich denke: “ Oh nein, verpennt!“. Doch ein paar Sekunden später realisiere ich, dass wir alle ausschlafen dürfen, da wir sowas wie einen Entspannungstag haben (ein 3/4-Stunden-Marsch), um uns an die große Höhe zu gewöhnen. Nach dem gestrigen anstrengenden Tag fühle ich mich nun erleichtert und ausgeruht. Wenig später schaue ich mich im Dorf ein wenig um und genehmige mir einen leckeren Starbucks-Brownie. Da Lukla der beliebteste Ausgangspunkt ist, um zum Everest Base Camp (EBC) zu gelangen, wimmelt es hier nur so von Touristen – und alles ist spürbar teurer als in den Dörfern.
Nun begebe ich mich zum Flughafen, um den Fliegern und Helikoptern beim Starten zuzusehen. Aufgrund der kurzen Landebahn und des Neigungswinkels, den das Flugzeug bei der Landung zu bewältigen hat, zählt Luklas Flughafen zu den gefährlichsten der Welt. Als ich das Anlassen des Motors höre und das Abheben und den Flieger anschließend im dichten Nebel verschwinden sehe, stelle ich nun hautnah fest, dass ich mich ängstige.
Nach einer Weile erhalten wir unsere Tims-Karte (die ist notwendig, um unsere Informationen in einer elektronischen Datenbank zu speichern) und können unsere Reise zum nächsten Dorf namens Phakding fortsetzen.
Um Lukla verlassen zu können, müssen wir das „National Luminary Pasang Lhamu Memorial Gate“ passieren. Dieses wurde zu Ehren der ersten nepalesischen Frau, die 1993 den Gipfel des Mt. Everest bestieg und dabei leider ums Leben kam, gebaut. Auf unserem Weg hinaus aus dem Dorf kommen wir auch an vielen Überresten des verheerenden Erdbebens im April 2015 vorbei.
Auf unserer Wanderung in Richtung Phakding sind wir von wunderschöner Landschaft umgeben und durchqueren auch ein paar winzige Dörfer. Diese Dörfer haben alle etwas gemeinsam: viele schwarze Felsen, auf denen etwas mit weißer Farbe eingeritzt ist, und in deren unmittelbarer Nähe befinden sich bunte Räder, in denen ebenfalls sehr bunt beschriebene Papierseiten stecken. Ich frage meinen Reiseführer Pasang, was es damit auf sich hat und er erklärt mir, dass es sich hierbei um sogenannte, in tibetischer Sprache verfasste Mantras-Gebte handelt, die in der buddhistischen Religion gebräuchlich sind. All diese Gebete haben dieselbe Bedeutung:
Om mani padme hum
Diese sechs Silben bedeuten, dass man seinen unreinen Körper, seine unreine Sprache und den unreinen Geist (Om) umwandelt, in den reinen, erhöhten Körper, die reine erhöhte Sprache und den reinen, erhöhten Geist Buddhas, durch die Anwendung der folgenden Übung: die unsichtbaren (hum) Vereinigung der Methode (Mani) und der Weisheit (padme). Es herrscht der Glaube, dass bei lauter Aussprache des Mantras und bei gleichzeitiger dreimaliger Drehung des Mani-Rades die Seele gereinigt und man von seinen Sünden befreit würde. Ich beobachte diesen Prozess bei ein paar einheimischen Frauen und beschließe, selbiges auszuprobieren, bevor wir unsere Reise fortsetzen.
Um 13:30 Uhr erreichen wir Phakding und genehmigen uns ein Mittagessen. Hier lerne ich Sherpa Kasang kennen, welchen ich sogleich interviewe, da er den Gipfel des Everest schon mehrere Male erklommen hat und als Führer in großen Höhen arbeitet. Näheres zu seinem interessanten Leben gibt es in meinem zuvor geschriebenen Artikel.
Den Rest des Tages verbringen wir mit Relaxen, Wäsche waschen, Bücher lesen und die Umgebung genießen.
Der nächste Morgen beginnt mit einer guten Yoga-Stunde gefolgt von einer köstlichen Frühstückspalatschinke. Es ist ein herrlicher, sonniger Tag mit unglaublich klarer Sicht, und ich fühle mich bereit für einen langsamen, 8-Stunden andauernden Marsch bergaufwärts. Es gilt, das kleine Dorf Namche Bazaar (3.440 m) mit gerade einmal 1.650 Einwohnern, welches im Khumbu-Areal angesiedelt ist, zu erreichen. Namche ist nicht nur ein wichtiger Handelsknoten für die Region Khumbu sondern auch der teuerste Ort in Nepal (es ist dreimal so teuer wie Nepals Hauptstadt Kathmandu).
Nach nur fünf Minuten überqueren wir eine lange Hängebrücke. Obwohl diese nicht wirklich hoch ist, fühle ich mich unwohl, da ich unter Höhenangst leide. Kurz darauf lässt mich unser Reiseführer wissen, dass wir heute noch vier weitere Hängebrücken vor uns haben. Die letzte davon hängt ungefähr 200 m über dem Boden. Da er immer grinst wenn er was sagt, weiß ich nie, ob er auch ernst meint, was er sagt. Somit denke ich, es handelt sich um einen Scherz. Und doch kann ich nach seiner Aussage an nichts anderes mehr denken als an diese 200 m hohe Brücke.
Nach der Hängebrücke stoßen wir auf ein Dorf, dessen Bewohner aufgeregt vor ihren Häusern stehen und telefonieren. Auf unsere Frage, was den passiert sei, antworten die Dorfbewohner, sie hätten gerade ein Erdbeben gespürt. Mein Freund und ich tauschen verängstigte Blicke aus und sind sprachlos. Unser Führer beruhigt uns und meint, dass kleine Erdbeben häufig auftreten und man nicht wirklich viel dagegen unternehmen könne. Also ziehen wir weiter. An einem wunderschönen Plätzchen mit umwerfenden Ausblick genehmigen wir uns dann eine Teepause.
Die restliche Strecke bis kurz vor Namche begleitet uns eine wirklich reizende Familie aus Singapur. Ich genieße die bezaubernde Landschaft. Die Überquerung der Brücken Nr. 2 und Nr. 3 waren nicht allzu problematisch, da sie nicht so hoch waren.
Je höher die Lage, desto touristischer wurde es, und ich sah viele Gepäcksträger, die manchmal bis zu vier oder fünf Gepäcksstücke simultan trugen, sowie schwerbeladene Stiere (in niedrigeren Gefilden werden Esel als Packtiere eingesetzt).
Nach einer Weile erreichen wir die Tims-Station, an der wir uns registrieren und 30 USD zahlen müssen, damit wir den Sagarmatha–Nationalpark betreten dürfen. Wir durchschreiten das Sagarmatha-Nationalpark-Tor und lesen aufmerksam die zu respektierenden Regeln für dieses Gebiet: Morde, Ärger, Neid, Beleidigung anderer sowie exzessive Berauschung seien zu unterlassen. – Der Nationalpark gilt nämlich als heilig für die einheimischen Bewohner, zumal er der Wohnort der heiligen Göttlichkeit des Universums (des Mt. Everests) ist.
Am Weg entlang begegnen uns auch viele ältere Menschen und es ist unglaublich, mitzukriegen, wie sie mit uns mithalten können. Respekt! Bevor wir den steil ansteigenden, drei-Stunden langen Marsch nach Namche antreten, statten wir dem letzten auf dem Weg liegenden Restaurant einen Besuch ab, um uns mit einem Mittagessen zu stärken.
Ich bestelle mir eine Nudelsuppe, die mir jedoch nicht schmecken will, da ich ständig an die vor uns liegende, 200 m über dem Boden hängende, letzte Brücke denken muss.
Nach dem Mittagessen verlassen wir schleunigst das Restaurant, denn es ist schon spät und wir wollen nicht in Dunkelheit geraten. Wir gehen weiter entlang des Flusses, und von dort aus kann ich schon die große Hängebrücke sehen: Großartig!
Als wir ihr näher kommen, versuche ich mich selbst davon zu überzeugen, dass ich keine Angst haben muss und dass ich mir meine Angst nur selber einrede, sie folglich nicht real sei. Ich hoffe inständig, dass mir das hilft. An der Brücke beobachte ich die vielen Menschen, die Minuten brauchen, um sie zu überqueren. Unter ihnen befinden sich auch einige Gepäckträger, z.B. einer, der gar eine Tür auf seinem Rücken trägt und ich wundere mich: Die ist sicher unheimlich schwer, was, wenn er ausrutscht und hinfällt?
Jetzt verliert Pasang aber die Geduld, packt mich an der Hand und meint, dass wir da jetzt rüber müssen. Meine Freundin Fatima und ich nicken uns kurz zu, ich nehme ihre Hand und wir bewegen uns langsam vorwärts. Die ganze Zeit über schau ich nicht nach unten, hoffe und bete, dass es bald vorbei ist und dass ich nicht ausrutsche. Der Wind bläst stark, meine Knie werden immer weicher und mein Herzschlag rast – Ich fühle mich zunehmendst unwohl und erhöhe meine Schrittgeschwindigkeit. Als wir endlich am anderen Ende ankommen, setze ich mich kurz hin, um zu Kräften zu kommen.
Ich bin überglücklich, fühle mich zuversichtlich und bin stolz auf mich. – Ich habe es geschafft!
Nachdem ich mehrere Fotos von diesem atemberaubenden Aussichtspunkt gemacht habe, kann ich nicht mehr damit aufhören, immer und immer wieder diese Brücke zu betreten, mit jedem Mal zuversichtlicher als zuvor. Jetzt, nachdem ich eine meiner Ängste überwunden habe, durchströmt eine ungewöhnliche Kraft meinen Körper. Ich genieße den Adrenalinrausch. Und trotz der verbliebenen Verängstigung, spüre ich Aufregung. Ich schaffe es sogar, mich nicht mehr am Geländer festzuhalten und schaue runter, ohne dass mir sofort dabei schwindelig wird. Und wieder schaffe ich es, diese Brücke zu überqueren.
Ein breites, glückliches Grinsen begleitet mich den Rest des Tages.
Doch es liegen immer noch drei Stunden Marsch steil bergaufwärts vor uns, und das macht uns allen zu schaffen. Aber ich bin einfach nur glücklich und singe vor mich hin. Um ca. 16:00 Uhr erreichen wir den Polizeiposten, den man passieren muss, wenn man Namche Bazaar erreichen will. Wir machen hier eine Teepause und warten, bis die Polizisten unsere Reisepässe und Tims-Karten kontrolliert haben.
Als wir ins Dorf kommen, sind wir von seiner Schönheit und Authentizität überwältigt. Wir erreichen unsere Gaststätte und stellen unser Gepäck in unseren Räumen ab. Da es sich hier um den letzten Ort handelt, an dem man frisches Fleisch bekommen kann, bestelle ich mir Momos (traditionelle, südasiatische Knödel) mit Huhn. Nach einem kurzen Nickerchen erkunden wir das Dorf. Es erinnert mich sehr an Lukla, denn auch hier gibt es viele Touristen, Bars, Reiseläden, westliche Bäckereien, Cafes und traditionelle tibetische Märkte.
In Namche befindet sich auch eine Apotheke, eine Bank, ein Postamt, einen Militärstützpunkt, eine Schule, ein Sherpa-Museum (hier gibt es viel über die Kultur und die Tradition der Sherpas zu erfahren) und ein Krankenhaus. Das Krankenhaus ist übrigens das letzte auf dem Weg zum EBC. Deshalb sieht man jeden Tag Hubschrauber, die Patienten vom EBC nach Namche und von dort aus nach Kathmandu bringen. Unser Heißhunger auf eine Nachspeise führt uns in eine der örtlichen Bäckereien, in der wir es uns mit Schokoladekuchen gut gehen lassen.
Leider schmeckt er, als wäre er bereits eine Woche alt. Aber wir lernen dort ein paar Inder kennen, und da wir am nächsten Tag frei haben, damit wir uns akklimatisieren, beschließen wir, unsere Ankunft in Namche mit ein paar Drinks zu feiern und den Abend gemeinsam und entspannt ausklingen zu lassen.
Am darauffolgenden Morgen stehen wir früh auf, denn wir wollen die tolle Aussicht auf den Everest und seine Umgebung an einem dafür bekannten Aussichtspunkt genießen.
Eine zweistündige Wanderung auf 3.800 m steht uns bevor, die uns auch gleichzeitig hilft, uns an die vorherrschenden Bedingungen zu gewöhnen. Glücklicherweise ist es sonnig und wir haben eine klare Sicht auf die Berglandschaft rund um Namche Bazaar. Ich bin sehr happy darüber, denn am gestrigen Tag unserer Ankunft regnete es und der Himmel war wolkenverhangen. Dass wir uns heute einer so schönen Aussicht erfreuen können, war also nicht absehbar.
Je höher es wird, desto besser wird es mit der Aussicht auf die umgebende Landschaft und das Dorf. Das Dorf wirkt mittlerweile ziemlich klein. Wir setzen uns nieder und rasten, während wir glücklich im Moment verweilen. In der Nähe sind Kinder – vier Buben auf dem Weg zur Schule und ein paar Gepäckträger. Sonst ist hier niemand, da es noch sehr früh ist. Den höchste Punkt erklommen, präsentiert sich die Landschaft in neuem Gewand: Es sind keine Bäume mehr zu sehen, alles ist flach und spärlich und ermöglicht uns so eine bessere Sicht auf das gesamte Gebiet. Unser Führer nennt alle sichtbaren Berge um uns herum beim Namen und ermuntert uns dazu, einen Tipp abzugeben, welcher denn der Mt. Everest sei. Wir liegen alle falsch mit unseren Vermutungen. Endlich zeigt er ihn uns, und uns verschlägt es die Sprache:
Jetzt blicken wir auf die Spitze des höchsten Berges der Erde. Fantastisch !!!
Wir verbringen an die zwei Stunden an diesem Aussichtspunkt, schiessen zig Bilder, trinken Kaffee, genießen den Ausblick und preisen jeden einzelnen Moment.
Nach unserem erfolgreichen Abstieg zum Gästehaus genehmigen wir uns dort ein Mittagessen und schauen uns im Anschluss einen Film in einer örtlichen Bar an, der uns mehr Einblick über den Everest und über die Kultur der Sherpas beschert. Danach gehen wir noch in ein Geschäft, um Proviant zu kaufen. Der Tag endet damit, dass wir mit anderen Reisenden Milchtee trinken und uns beisammen sitzend Geschichten erzählen, und wir bereiten uns auf den morgigen Reisetag nach Tengboche (3,870m).
Gute Nacht
Hinweis: Die nun folgenden Bilder zeigen ein paar Eindrücke, die wir am Weg von Lukla nach Namche Bazaar eingefangen haben:
Wunderschöne Eindrücke! Sowohl bildlich als auch schriftlich. Schade, dass das Video nicht funktioniert.
Das Video geht jetzt, danke für den Hinweis!
Geil, Video wertet den Beitrag nochmal ordentlich auf. Danke.
Vielen lieben Dank, freut mich 🙂