Mein erster Einsatz
Da ich mich von der langen Reise erholen musste, habe ich die zweite Nacht durchgeschlafen, und bin um 09.00 Uhr zum Einsatz erschienen. Gegen 12.00 Uhr habe ich eine Benachrichtigung erhalten, dass ein Boot in Richtung “Katja”, südlich vom Flughafen, fährt. Als ich vor Ort ankam, waren auch andere Volontäre von unterschiedlichen Gruppen und verschiedensten Ländern dort. Es waren viele Reporter, der ein oder andere Schaulustige, Ärzte, Retter und andere Freiwillige anwesend.
Je näher das Boot dem Strand kam, desto mehr spürte man die Aufregung in der Luft – es war ein sehr seltsames und neues Gefühl.
Ich hatte 1000 Fragen in meinem Kopf:
Muss ich jemanden wiederbeleben?
Gibt es Verletzte, Bewusstlose?
Wieviele Kinder sind an Bord?
…
Plötzlich wurde uns befohlen einen Korridor zu bilden, links das medizinische Team und rechts alle weiteren Volontäre. In der Zwischenzeit wurde alles vorbereitet: Decken, saubere Kleider, Notfalldecken, Socken, Schuhe, Essen usw. wurden rausgebracht, sodass wir die Flüchtlinge schnell und erfolgreich versorgen konnten. Zusätzlich verfügen die Medical teams, sowie auch die Lifeguards, über all die Materialien, die für einen Erste Hilfe Einsatz benötigt werden.
Weiterhin wurde der Bus von UNHCR (United Nations High Commission for Refugees) darüber verständigt, dass ein Boot angekommen ist und die Menschen bereit sind, abgeholt zu werden. Dieser Service der UNHCR steht erst seit neuestem zur Verfügung- vorher mussten die Menschen ihren Weg selbst zum Registrierungszentrum “Moria”, das früher ein Gefägnis war, finden. Sie mussten zu Fuß und mit durchnässten Kleidern in das Registrierungscamp laufen. Je nachdem an welchem Punkt der Insel sie angekommen waren, konnte der Weg auch bis zu zwei Tage dauern.
Als das Boot nur noch ein paar Meter weit weg war, eilten die Lifeguards zu Hilfe, um es an Land zu ziehen und den Menschen herunter zu helfen. Es waren ca. 50-60 Menschen an Bord. Frauen und Kinder werden immer in der Mitte des Bootes platziert, damit sie nicht so viel Angst haben, doch leider sammelt sich in der Mitte auch am meisten Wasser, weswegen diese dadurch oft noch durchnässter sind. Bei kleinen Kindern und älteren Menschen kommt es häufiger zu Unterkühlungen, deshalb ist es wichtig besonders darauf zu achten.
Vom Moment der Ankunft des Bootes ging alles wahnsinnig schnell, es war ein ziemliches Chaos. Ich habe versucht einen Überblick der Situation zu gewinnen, um zu verstehen ob jemand medizinische Hilfe benötigt; in Situationen, in denen so viele Menschen aufeinander treffen, ist es oft schwierig zu identifizieren wer eigentlich am dringensten Hilfe braucht.
Plötzlich wurde mir ein Kind in den Arm gedrückt, es hat geweint und war vollkommen durchnässt.
Wiederum schossen mir 1000 Fragen durch den Kopf, aber ich habe einfach gehandelt: Ich habe die Mutter mit mir mitgenommen und habe sie zu den Decken gebracht, wo die Kleider gewechselt werden; hauptsächlich das Wechseln der Socken ist sehr wichtig.
Das Wichtigste in dieser Situation war eigentlich die menschliche Komponente, den Menschen, durch gutes Zureden, Ruhe und Sicherheit zu vermitteln. Man konnte es an den Augen der Menschen erkennen, dass sie sehr große Angst hatten und sich in einem sogenannten “Schockzustand” befanden.
Zum Glück gab es bei diesem Boot, außer dass alle durchnässt und am ganzen Leib zitterten, keinen gravierenden Fall. Viele Menschen kommen aber auch mit starker Unterkühlung, Dehydratation, Unterzuckerung, Brüchen, Verstauchungen usw. an und benötigen dringende medizinische Hilfe.
Nachdem alle Menschen grundversorgt worden waren, gingen sie zum Bus, um nach Moria gebracht zu werden.
Was mich an diesem Tag am meisten beeindruckt hat, war der Gesichtsausdruck der Menschen. Man konnte ihnen wirklich die Angst und die Erschöpfung, aber auch die Erleichterung von den Augen ablesen. Ich habe so etwas noch nie zuvor in meinem Leben gesehen – es war wirklich beeindruckend. Viele waren unter Schock, was auch sehr verständlich ist, wenn man bedenkt, dass diese Menschen bis zu sechs Stunden auf dem offenen Meer sind- in der Dunkelheit, total durchnässt – und dabei auch noch ihr Leben riskieren.
Plötzlich hatte ich nur noch eine Frage in meinem Kopf:
Was genau müssen diese armen Menschen schon alles mitgemacht und überstanden haben, dass sie gewillt sind eine so gefährliche Reise auf sich nehmen und sich und ihre Kinder dem “Tod”auszusetzen?