Mein Bruder, wo bist du nur?

Für uns oder gegen uns
Meinung

Mein lieber Bruder,

mir ist bewusst, dass du derzeit nicht du selbst bist. Ich vermisse dich. Ich vermisse mein Vertrauen zu dir, auf dich zu bauen, und ich vermisse den Spaß, den wir gemeinsam hatten. Ich vermisse unsere Gespräche und dass ich dich um Rat fragen kann. Ich vermisse es, mit dir am Balkon zu stehen, eine Zigarette zu rauchen und mit dir zu lachen. Vielleicht war ich wirklich nicht immer die beste Schwester, doch jetzt geht es mir schlecht wegen dir, und ich habe Angst vor dir.

Wir leben in zwei verschiedenen Welten, du in der einen, die du in deinem Kopf erschaffen hast, und ich in der anderen, beim Rest der Welt. Ich versuche, mich selbst zu überzeugen, dass es nicht deine Schuld ist, dass du das tust, was du gerade tust. Dass du krank bist. Aber es ist so real und hart und fühlt sich auch hart an. Das scheint wohl der Fluch deiner geistigen Krankheit zu sein: Sie lässt sich gut verstecken, und dabei verstehen die Menschen nicht, dass das gar nicht du bist.

Vor drei Jahren haben deine psychotischen Phasen angefangen, und ich kann bereits dein Muster erkennen: Es fängt damit an, dass du high bist und dich in Liebe auflöst. Du liebst alles und jeden um dich. Diese Phase hält nur leider nicht so lange an, denn dann verwandelst du dich in jenen, dem alles egal ist, und verhältst dich roh. Dir sind die Menschen um dich herum gleichgültig, und du glaubst, es seien alle gegen dich. Dann isolierst du dich, ziehst dich in dein Zimmer zurück und hörst laute, aggressive Musik. Und schläfst nicht mehr. Du rauchst im Haus. Du lässt überall das Licht brennen. Du klopfst nicht mehr an, bevor du irgendwo eintrittst. Du nimmst dir alles, ohne zu fragen, und wenn ich mich dagegen wehre, dann bin ich dein Feind. Alles wendet sich zum Schlechten. Und du kommst mit unterschiedlichen Theorien und Sachen, an die du glaubst und die du verfolgst. Dabei glaubst du, du seiest jemand ganz Besonderer, der auserkoren wurde.

Du hast dann eine spezielle Verbindung zu Gott und glaubst, dass das der Grund sei, warum dich niemand versteht. Aber es ist dir egal, denn das sei ja der Grund, dass du anders bist als der Rest der Welt, denn jedes Genie oder jede „einzigartige Person“ bleibt schließlich unverstanden. Also glaubst du sogar daran, dass du dich für die Welt opferst, und akzeptierst, dass man dich den „Verrückten“ nennt, der sozial ausgeschlossen wird. Du glaubst, eben Recht zu haben und daran, dass die anderen das später schon noch verstehen werden. Und dann hast du vor nichts mehr Angst – genau das macht dich dann zu einer Gefahr für deine Umgebung, aber vor allem für dich selbst. Irgendwann ist nämlich der Punkt da, an dem du deine Pläne in Gang setzt und nur noch impulsiv agierst.

Dann erwischen dich die Behörden, und du kriegst wieder eine Behandlung. Dann bist du wieder eine neue Person – und für ein paar Monate wieder mein Bruder: ehrgeizig, verantwortungsbewusst, voller Ideen und Pläne, lernbereit und erfolgsorientiert; du motivierst mich, Dinge zu machen und mit mir gemeinsam das Leben zu erkunden. Das geht eine Weile so … bis der Teufelskreis von vorne beginnt und die Krankheit dich mir wieder wegnimmt.

Wie kann man jemandem helfen, wenn er das nicht will? Wie behandelt man einen Menschen, der nicht behandelt werden möchte? Wie kann man jemanden, der krank ist, von der Existenz einer unsichtbaren Krankheit überzeugen?

So oft habe ich mich gefragt, ob dir bewusst ist, wie sich das für deine Umgebung anfühlt. Für jene, die dich lieben und dich unterstützen. Deshalb spreche ich ja von zwei verschiedenen Welten. Ich kann mich nicht in dich einfühlen und du dich nicht in mich. Also wie können wir es schaffen, einander zu verstehen?

Mir tut das alles leid, was dir, was uns geschehen ist und gerade geschieht. Vielleicht verdienen wir es nicht anders, vielleicht aber auch nicht. Aber eine Sache ist sicher: Ich habe aufgehört, mir die ewige Frage zu stellen: „Wieso ich, wieso wir?“ Denn es kostet mich zu viel Energie und ich komme sowieso auf keine Antwort. Das frustriert mich, es macht mich zornig und auch neidisch auf meine Freunde, die ein normales Leben leben. Ich war unglücklich. Ich machte mich selbst unglücklich allein mit den Gedanken, die ich spann.

Und dann wurde ich mir der Power bewusst, die wir haben. Wir sind verantwortlich für unsere Gefühle und Gedanken, und das finde ich ganz großartig. Also warum soll ich diese Möglichkeit nicht positiv nutzen? Der erste Schritt: Akzeptanz. Es ist nun einmal so, wie es sein soll. Ich kann es nicht kontrollieren. Das ist es, was wir lernen müssen, damit sich unsere Seelen zum Besseren entwickeln können. Alles passiert aus einem Grund, und alles ist gut für uns, selbst wenn wir uns dessen erst in zehn Jahren klar werden sollten.

Nun, mein lieber Bruder, auch wenn unsere gemeinsame Reise sehr tough ist: Sie gehört uns. Mir. Und dir.

In Liebe

Carina

Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen

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