Mahatma Gandhis Philosophie des Ahimsa
Wann immer ich über das Thema Gewaltlosigkeit nachdenke, springen einige Namen sofort in meinen Kopf. Und einer davon ist – aus offensichtlichen Gründen – Mahatma Gandhi. Er wird in Indien als „Vater der Nation“ angesehen, und als Inderin wuchs ich auf mit Geschichten über ihn, die ich hörte oder las.
Die Verehrung dieses Mannes als Freiheitskämpfer gegen die britische Kolonialherrschaft ist enorm und unvergleichbar, denn er erfand einen einzigartigen Weg, der Kolonialmacht zu begegnen und damit die Unabhängigkeit der Nation zu erreichen.
Doch Gandhi wird in Indien nicht nur für seinen Beitrag als Freiheitskämpfer verehrt, sondern auch für die Entwicklung und Umsetzung eines neuen Weges im Umgang mit Ungerechtigkeit und Unterdrückung: Er war der Exponent der Gewaltlosigkeit und erschuf eine einzigartige Philosophie, die auf der Wahrheit und der Ablehnung von Gewalt basiert und eine Anleitung für die persönliche Lebensführung ist.
Nach Gandhi sind die Wahrheit und das hinduistische Prinzip des Ahimsa auf organische Weise miteinander verbunden und bilden daher das Fundament seiner Lebensphilosophie. Gandhi verstand die Wahrheit als Gott und Gott als die Wahrheit, während Ahimsa von ihm als äußerste Selbstlosigkeit beschrieben wird.
Vielen Philosophen zufolge ist Gott die höchste Realität. Doch Gandhi sagt, dass es nichts neben der Wahrheit gebe. So stehen die Wahrheit und Gott für die höchste oder die letztendliche Realität, und daher können diese beiden als identisch angesehen werden. Er sagte, dass es keine Person auf der Erde gebe, die die Wahrheit bestreiten kann. Gott kann bestritten werden, weil der Atheist nicht an Gott glaubt. Doch selbst ein Atheist kann nicht die Macht der Wahrheit in Frage stellen. Daher wird Gott in Gandhis Verständnis mit der Wahrheit identifiziert. Er ging sogar so weit, die Wahrheit als Existenz, Bewusstsein und Glückseligkeit zu beschreiben.
Nach Gandhi hat Ahimsa oder die Gewaltlosigkeit auch eine positive Bedeutung, denn die Gewaltlosigkeit bedeute „Liebe“ in einem sehr weit gefassten Sinn: Liebe gegenüber allen lebenden Kreaturen. Das Konzept der Gewaltlosigkeit wird erweitert und nicht nur als Mittel zur Menschenliebe, sondern als Liebe gegenüber allen fühlenden Geschöpfen dieser Welt betrachtet. Das bedeutet, dass man nicht nur andere Menschen lieben solle, sondern jedes lebende Wesen auf dieser Erde.
Wenn eine Person behauptet, gewaltlos zu sein, dann wird von ihr erwartet, dass sie nicht aggressiv gegenüber einer anderen Person ist, die sie verletzt hat. Eine solche Person wird niemandem ein Übel wünschen, sie wird vielmehr das Wohlbefinden aller Menschen wollen, auch derer, die ihr etwas Negatives angetan haben. Solch eine Person wird ihrem Täter keine physische Gewalt antun. Diese Gewaltlosigkeit ist vollständige Unschuld.
Gandhi war sich jedoch der Tatsache bewusst, dass Gewaltlosigkeit in dieser absoluten Form in der Praxis kaum realisierbar ist; relative Gewaltlosigkeit aber kann in der Praxis sehr wohl umgesetzt werden. Gandhi betrachtete Gewaltlosigkeit daher als das Gesetz unserer Spezies. Da er erkannte, dass totale Gewaltlosigkeit in unserem Leben nicht realisierbar ist, schrieb er: „Der Mensch kann keinen einzigen Moment lang leben, ohne bewusst oder unbewusst Gewalt nach außen hin zu verüben.“ Diese Gewalt richtet sich gegen das Leben.
Doch das heißt nicht die ergebene Unterwerfung unter den Willen eines Böswilligen; vielmehr bedeutet es, seine ganze Seele gegen den Willen des Tyrannen zu richten. Gandhis Konzept der Gewaltlosigkeit ist kurz gesagt in Aktion gesetztes Dharma und übersetzte Wahrheit. Es ist wichtig zu verstehen, dass Gandhis Idee der Gewaltlosigkeit kein statischer Code von Moral ist, den man einfach übernehmen kann.
Gandhi zufolge ist Ahimsa oder Gewaltlosigkeit das Mittel, während Wahrheit das Ende ist. Diese beiden Dinge sind so stark miteinander verbunden, dass sie unmöglich zu trennen sind. Nach Gandhi muss Ahimsa oder Gewaltlosigkeit auf der mentalen Ebene ausgeübt werden. Das bedeutet, keinerlei Böswilligkeit gegen andere zu beabsichtigen. So ist Ahimsa oder Gewaltlosigkeit die Nichtverletzung anderer, jedoch nicht nur in einem physischen, sondern auch in einem mentalen Sinn.
Gandhi vertrat die Meinung, dass „Töten oder das Zufügen von Verletzungen gegenüber dem Leben nur unter bestimmten Bedingungen ein Akt der Gewalt sein kann. Diese Bedingungen sind Wut, Stolz, Hass, Egoismus und schlechte Absichten im weitesten Sinn.“ Für Gandhi sind die positiven Aspekte des Ahimsa weitaus grundlegender als die negativen Charakterzüge. Ahimsa ist nicht nur das Bestreben, das Verursachen von Verletzungen anderer Kreaturen zu vermeiden; es steht darüber hinaus für eine bestimmte positive Einstellung gegenüber anderen Lebewesen, die es zu kultivieren gilt.
Gandhi zufolge ist Ahimsa nichts als Liebe, und Liebe ist die Energie, die unser inneres Leben reinigt und uns erhebt. Eine solche Liebe lässt edle Gefühle wie Empathie, Mitgefühl, Vergebung, Toleranz, Großzügigkeit, Liebenswürdigkeit, Sympathie usw. auf Dauer bestehen.
Gandhi glaubte, dass ohne die Praxis der Gewaltlosigkeit die Wahrheit niemals realisiert werden könne. Er argumentierte, dass Gott alle Geschöpfe durchdringe und dass alle Geschöpfe von Gott vereinigt würden. Dadurch wird der Akt der Vereinigung mit Gott ermöglicht durch Liebe oder Gewaltlosigkeit. So ist die Gewaltlosigkeit in Gandhis Ahimsa-Philosophie das bindende Element des Universums und hat ihren Ursprung in Gott oder der Wahrheit.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
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Mahatma_Gandhi_Statue_Gandhinagar_Kakinada_01 | Adityamadhav83 | CC BY-SA 3.0 |