Lesbos-Tagebuch. Ein Jahr danach.
Vor einem Jahr war ich in Griechenland, auf der Insel Lesbos. Der Hauptankunftsort für Flüchtlinge, die versuchen, von der Türkei aus nach Europa zu gelangen. Der Ort, der mich gelehrt hat, dass alles in zwei gegensätzlichen Dingen kommt: Schmerz und Freude. Lachen und Tränen. Leben und Tod.
Ich verbrachte dort drei Wochen als Freiwillige, sowohl an den Stränden als auch im Lager Moria. 231 Tage, während denen ich alle möglichen Gefühle erlebte: Von Trauer und Frust bis zu echtem Glück und Befreitheit.
Andererseits fiel mir das Schreiben darüber nicht schwer, als ich noch auf der Insel war. Überhaupt nicht. Es war ein Weg, die Geister dessen, was um mich herum passierte, zu vertreiben – und die meiste Zeit über war das alles weit mehr, als ich verkraften konnte.
Daher möchte ich jetzt einige der Gedanken und Erfahrungen teilen, so, wie ich sie damals niedergeschrieben habe. Von den allerersten Tagen über den Tag, an dem das Abkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft trat, bis zu meiner ersten Zeit zurück in meinem Zuhause.
Lesbos, Tag 6, 8:18 Uhr – Lagerfeuer
An diesem Morgen bei Sonnenaufgang übergab mir ein Vater seinen Sohn. Das Kind war völlig durchnässt und hatte noch die winzige Rettungsweste an. Es war sechs oder sieben, fühlte sich aber ziemlich schwer an durch all das Wasser, das noch den letzten Zentimeter seiner Schuhe, seiner Hosen und seiner Weste ausfüllte. Der Bub konnte nicht aufhören zu zittern. Und ich auch nicht.
Sobald das Schlauchboot sich dem Strand nähert, beginnen die Leute zu schreien, Kinder weinen. Und alles, was wir haben, um ihre Unterkühlung zu bekämpfen, sind Rettungsdecken und ein paar wenige trockene Sachen.
Denn: „Niemand steckt seine Kinder in ein Boot / solange das Wasser nicht sicherer ist als das Land / […] Niemand verlässt sein Zuhause, bevor ‚Zuhause‘ nur noch eine verschwitzte Stimme in deinem Ohr ist / die sagt: / Hau ab, / geh weg von mir, jetzt! / Ich weiß nicht, was aus mir wird / aber ich weiß, das es überall / sicherer ist als hier“ („Home“, Warsan Shire)
Lesbos, Tag 10, 22:04 Uhr – Lager Moria
Das ist der dritte Tag, an dem ich im Lager in Moria arbeite, und ich versuche noch immer, mich an dessen weißgewaschene Mauern und den Stacheldraht zu gewöhnen. Von außen sieht es wie ein Gefängnis aus, und von innen bekommt man das Gefühl, dass es genau das tatsächlich ist: ein Gefängnis. Überall Polizei und Militär, man muss einen Dienstausweis vorzeigen, um hineinzukommen. Man darf drinnen keine Fotos machen. Die Schlangen an den Essensausgaben sind endlos. Die Spannung ist greifbar und schlägt zuweilen in Gewalt um.
Heute ist es regnerisch, windig und kalt. „Ich muss dir etwas erzählen.“ Vor mir steht ein Afghane, Anfang zwanzig. Ich habe ihm gerade die Hütte des UNHCR gezeigt, in der er die Nacht verbringen kann. Auf dem Boden, mit 20 anderen Menschen, auf ein paar Quadratmetern. Nicht alle haben so viel „Glück“ wie er, denn das Lager ist überfüllt.
Seitdem ich nach Griechenland gekommen bin, habe ich wirklich gesehen, was Menschlichkeit bedeutet. In meinem Land hilft uns niemand, die Regierung ist korrupt. Hier kann ich endlich Menschlichkeit sehen. Danke!
Ich umarme ihn und wünsche ihm viel Glück. Andere Familien warten.
Lesbos, Tag 16, 9:40 Uhr – Lager Moria
Einfach nur einatmen. Und ausatmen.
Lesbos, Tag 17, 1:45 Uhr – Lager Moria
Es war eine seltsame Nacht. Hart und zugleich glücklich. Auf eine Art, wie es nur in einem Flüchtlingslager möglich ist.
Die Grenzen sind geschlossen, und von den Inseln nach Athen zu kommen, dauert länger als bisher. Jeden Tag kommen neue an, während vor unserer Hütte bekannte Gesichter auf uns warten. Wir machen aus Fremden Freunde. Wir sind jetzt eine kleine Familie. Sie teilen ihre tiefsten Hoffnungen und Träume mit uns. Sie werden durch Nummern identifiziert, und doch zeigen sie uns ihren Lebensmut und ihre Menschlichkeit in allem, was sie tun.
Sich ihre Geschichten anzuhören, ist überwältigend. Gewehre, Bomben, der IS und die Taliban haben sie hergebracht. Und das ist es, was die Welt auch in ihnen sieht: Terroristen mit Gewehren und Bomben. Was ich sehe, sind dagegen einfach nur Menschen, die versuchen, eine neue Bedeutung für ihr Leben zu finden. Frauen, alleine mit ihren Kindern. Kinder, die nichts als Krieg und Tod gesehen haben. Männer, die zu Hause das Familienoberhaupt waren und die nun spüren, wie ihnen ihre Identität weggezogen wird. Die meisten von ihnen sind ohne ihre geliebten Angehörigen unterwegs.
Und dann sind da die Kinder. Manchmal ist es ein seltsames Gefühl, zu sehen, wie sie im Lager spielen. Vielleicht sehen sie den Stacheldraht nicht so wie wir. Vielleicht haben sie einfach schon Schlimmeres erlebt. Vielleicht ist das einfach gar nichts im Vergleich zu dem, was sie schon gesehen haben. Oder vielleicht ist es einfach das, was Kinder eben tun: Fröhlichkeit und Hoffnung zu entzünden, wo alles so dunkel scheint.
Lesbos, Tag 19, 20:40 Uhr – Lager Moria
Was ich heute, nach meiner Schicht, mit mir nehme, ist sehr einfach. Und doch dauerte es mehr als zweieinhalb Wochen, bis ich es endlich verstanden hatte:
Und meistens werden die Menschen, denen du zu helfen versuchst, ihrerseits dir helfen und dich verändern. Das klingt wie ein Klischee, ich weiß. Ist es aber nicht. Es gibt keine Retter und Menschen, die gerettet werden müssen. Es gibt keine Flüchtlinge und Freiwilligen. Es gibt nur uns.
Lesbos, Tag 20, 4:30 Uhr – Lager Moria
Das kriminelle Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei ist in Kraft getreten. Flüchtlinge werden aus dem Lager geworfen. Polizei und Militär sind überall, und Moria wird in einer einzigen Nacht geräumt. Es ist jetzt ein Gefangenenlager. Nur wer nach Mitternacht gekommen ist, kann bleiben. Oder besser: muss bleiben. Auf ihren nassen Kleidern ist noch Salz.
Die Leute geraten in Panik, Gerüchte einer Massendeportation in die Türkei breiten sich aus. Wer registriert ist, muss gehen und die Insel so schnell wie möglich verlassen. Wir zwingen uns zu einem Lächeln, während wir es ihnen erklären:
Als die EU ihr inhumanes Abkommen mit der Türkei in Kraft setzt, haben alle die unbedingte Priorität, zum Hafen und auf die Fähre nach Athen zu gelangen. Drei syrische Frauen mit drei Babys, noch ein weiterer Freiwilliger und ich quetschen uns in unseren Nissan Micra. Zusammen mit Decken, Rucksäcken und Plastiksackerln. Das ist alles, was sie haben. Mit einer Hand halte ich das Lenkrad, mit der anderen reiche ich einer der Mütter die Babyflasche. Ihr Kleines schreit. Wir erreichen den Hafen nur zehn Minuten vor der Abfahrt und rennen, Rücksäcke und Plastiksackerln schleppend.
Als die EU ihr inhumanes Abkommen mit der Türkei in Kraft setzt, scheint es, als habe ich nur 30 Sekunden, um mich von einem der besten Typen zu verabschieden, die ich je getroffen habe. Gerade Zeit genug für eine Umarmung und ein schnelles „Ich werde dich vermissen.“
Ein Polizist zieht mich am Arm. Ich muss die Fähre verlassen.
Zu Hause, Tag 3
Vor fünf Nächten war ich noch am Strand, an dem Ort, an dem Tag für Tag die Menschlichkeit verloren ging und wo Tag für Tag die Menschen so hart darum kämpften, sie zurückzubekommen.
Wie kann man danach in die Normalität zurückkehren?
Zur Zeit fühle ich mich wie ein Teil, das nicht hineinpasst.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake