Konstruktive Ideen in Zeiten des Populismus

Populismus
Politik

Veranstaltungsdaten

Datum
13. 12. 2016
Veranstalter
Österreichische Gesellschaft für Europapolitik
Ort
Haus der Europäischen Union, Wipplingerstraße 35, 1010 Wien
Veranstaltungsart
Podiumsdiskussion
Teilnehmer
Ulrike Guerot, Donau Universität Krems
Elisabeth Hagen, Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW)
Margit Schratzenstaller-Altzinger, WIFO
Melanie Sully, Go-Governance Institut
Paul Schmitt, Generalsekretär der öst. Gesellschaft f. Europapolitik, Moderator

Nach Meinung der Gründerin des European Democracy Lab, Ulrike Guerot, stehen wir vor der Entscheidung, ob wir weiterhin das Zwangskorsett der Nationalstaaten über uns ergehen lassen wollen, oder uns hin zu einer Europäischen Republik entwickeln. Die propagierte Renationalisierung in Europa und den USA findet laut Guerot nicht statt:

Die Risse gehen quer durch die Gesellschaften der einzelnen Staaten (in USA für/gegen Trump, in Frankreich für/gegen Le Pen, in Österreich für/gegen Hofer), und das Ergebnis dieser sich daraus entwickelnden Dynamik sei noch schwer abzuschätzen.

Es wäre an der Zeit, endlich die europäische Staatsbürgerschaft einzuführen. Aktuell gäbe es viele gute Ideen zu Europa, die meisten davon seien zwar griffig, aber zu klein gedacht. Beispielhaft führt Guerot die Interrail-Tickets für Jugendliche an.

Die Populisten haben gegenüber den meisten aktuellen, konstruktiven Ansätzen den Vorteil, dass sie eine klare Idee vermitteln: raus aus der EU, raus aus dem Euro. Ein ausgearbeitetes Gegenmodell bieten sie !allerdings! nicht. Diesen Ideen könnte man Ulrike Guerots Konzept der europäischen Republik entgegensetzen: Sie ist transnational, alle Bürger sind gleich vor dem Recht, wie in Ciceros ‚Republik‘ ist das ius consentis die Basis des Zusammenlebens.

Aktuelles Beispiel: Den Briten wird laut Guardian im Zuge der Brexit-Verhandlungen möglicherweise ein persönliches Opt-in für eine Unionsbürgerschaft in Aussicht gestellt. Wenn man diesen Beschluss vor den EuGH brächte, könnte man diese Unionsbürgerschaft für alle EU-Bürger durchsetzen.

Die Träger dieses neuen Konzeptes sind momentan nicht vorhanden – was laut Guerot aber kein Problem darstellt: Denn frei nach Hegels Weltgeist brechen sich gute Ideen immer ihre Bahnen und finden die geeigneten Personen.

Melanie Sully, Mitbegründerin der Plattform go-governance, findet die Idee der Unionsbürgerschaft zwar interessant, meint aber, dass sie die aktuellen Probleme nicht lösen wird. Ein wichtiger Grund für den Brexit sei gewesen, dass man den großen Worten von etablierten Politikern keinen Glauben mehr schenke.

Es reiche nicht, die Erwartungen der Bevölkerung besser zu managen. Die Probleme lägen tiefer: Die Politik löst die großen Fragen nicht mehr, es werden viele Unwahrheiten verbreitet (so auch im Brexit-Wahlkampf).

Populisten stellen sich immer gerne als Anti-Establishment dar, doch sind sie meist Teil dessen.

Schon im Großbritannien der 1960er (David Frost) ging die Kritik am Establishment vom Establishment selbst aus. Die Brexit-Befürworter Nigel Farrage und Boris Johnson sind auch Teil des Establishments. Sie punkten vor allem damit, dass sie dem einfachen Mann, der sich vom Rest der Politik nicht mehr vertreten fühlt, zuhören. Auch Trump habe mit dieser Strategie gewonnen.

Auf die Frage, welche Angebote die Europäische Union Großbritannien machen und ob man weiterhin passiv auf das Abrufen des Artikels 50 des EU-Vertrages warten solle, meint Sully, dass dieses Abwarten als Ausrede für die herrschende Fantasielosigkeit der EU-Politik herhalten müsse.

Im Königreich selbst haben sich selbst die meisten Remainer – also diejenigen, die für einen Verbleib in der EU gestimmt haben – mit dem Brexit bereits abgefunden, die Diskussion dreht sich hauptsächlich um das Wie.

v.l.n.r.: Elisabeth Hagen, Melanie Sully, Paul Schmidt, Margit Schratzenstaller-Altzinger, Ulrike Guerot
v.l.n.r.: Elisabeth Hagen, Melanie Sully, Paul Schmidt, Margit Schratzenstaller-Altzinger, Ulrike Guerot

Es brauche große Ideen und viele kleine Schritte, um diese zu verwirklichen – so Elisabeth Hagen vom Institut für Wirtschaftsvergleiche. Das EE-Budget stehe gerade in Verhandlung, und über dieses könnte man Problembereiche wie Wirtschaftswachstum (Investitionsimpulse) und Arbeitslosigkeit (Job- und Ausbildungsförderung) direkt adressieren und die Globalisierungsverlierer mit klaren Botschaften wieder ins politische Boot holen. Auch ein europäisches Sozialsystem inklusive einer europäischen Mindestsicherung müsse angedacht werden.

Wie kann man nationale Entscheidungsträger für Europa begeistern? Zum Beispiel über die transeuropäischen Netze, die vielen Regionalpolitikern herzeigbare Erfolge ermöglich haben. Wer die Lorbeeren für solche Erfolge einheimsen darf, ist leider oft ein großer Streitpunkt, der die gute Idee in der Öffentlichkeit oft desavouiert.

Als sehr komplex stellt sich laut Margit Schratzenstaller-Altzinger vom Wifo die oft geforderte Koordinierung der europäischen Steuerpolitik dar. Es gäbe viele unterschiedliche Interessen: Z.B. gäbe es bei der Harmonisierung des Mindeststeuersatzes bei der Körperschaftssteuer auf den ersten Blick Gewinner (diejenigen mit bisher hohem KöSt-Satz) und Verlierer.

Was allerdings nicht erkannt wurde bzw werden will, ist, dass auch diejenigen mit bisher niedrigem KÖSt-Satz Vorteile aus einer Harmonisierung ziehen könnten, da sie bisher die Finanzlöcher, die durch die entgangenen Unternehmenssteuern zwangsläufig entstanden, über Steuern für Unselbständige und Private ausgleichen mussten.

Steuerpolitik gilt gemeinhin als ureigenes Souveränitätsrecht der Nationalstaaten. Diese Souveräntität besteht allerdings nur formal, da sie durch den internationalen Steuerwettbewerb stark eingeschränkt ist. Würde man die Steuerpolitik koordinieren, dann hätten die Staaten wieder mehr Handlungsspielraum in der Ausgestaltung der Verteilung der Steuerlast.

Hohe Vermögen und Unternehmensgewinne sind immer schwieriger zu besteuern. Das Ungleichgewicht in der Abgabenstruktur ist auf nationaler Ebene nicht mehr zu lösen. Die EU könnte hier mit neuen Ideen punkten, stattdessen verliert man sich in seiner defensiven Haltung im Klein-Klein legistischer Entscheidungen (zB Mutter-Tochter-Richtlinie).

Diese Visionen wären gut kommunizierbar, die Vorteile für alle gut vermittelbar. Hier ortet Schratzenstaller-Altzinger auch ein Kommunikationsproblem.

Ulrike Guerot fordert, dass wir einen Schritt zurückmachen und sauber definieren müssen, was wir tatsächlich von Europa wollen. Laut Tucholsky „geht im Nationalstaat alle Souveränität vom Volk aus und kommt so schnell nicht wieder.“ Wir alle sind das Volk, der souveräne Nationalstaat handelt in unserem Auftrag.

Er ist also keine Konstante (schließlich gibt es ihn auch erst eine relativ kurze Zeitspanne in der Geschichte des Menschen): Wenn das Volk will, kann es die Souveränität zurückverlangen (und an andere Ebenen vergeben). Guerot schwebt ein Staatenbund nach dem Konzept des integralen Föderalimus von Hannah Arendt vor.

Die Staaten können diese Umbildung Europas nicht durchführen, da sie nicht souverän sind. Auch eine der mächtigsten europäischen Institutionen, der Europäische Rat, steht Veränderungen hin zu mehr Demokratie im Weg: Laut Habermas verrät der Rat, in dem Minister der Nationalstaaten jede Entwicklung blockieren können, durch den dort grassierenden, postdemokratischen Exekutivföderalismus das Volk.

Die Anti-Establishment-Haltung mancher Kritiker findet Guerot grundsätzlich gut: Aufbegehren gegen die Obrigkeit ist als Korrektiv einer Gesellschaft notwendig. Problematisch wird es, wenn eine Teilgruppe vorgibt, das Volk zu vertreten. Der Anti-Pluralismus-Aspekt sei gefährlich: wie organisiert man eine faire Repräsentation, wenn sich diejenigen, die zB eine Leitkultur definieren, von den anderen abgrenzen und diese ausschließen?

Man dürfe nicht Volksgruppen gegen Volksgruppen stellen, der Weg zum Protofaschismis wäre damit weit geöffnet. Die Nationalität sei heute ein Wettbewerbsfaktor (siehe Steuern) und stelle Bürger in Konkurrenz zueinander. Deshalb plädiert Guerot dafür, dass personenbezogene Bürgersteuern für alle Europäer gleich sein müssen.

Bei Unternehmens- und Gebietskörperschaftssteuern sieht sie dafür keine Notwendigkeit, da sich das Unternehmen entweder für niedrige Steuern oder für qualifizierte Arbeitnehmer (die in einem guten Umfeld leben wollen) entscheiden müssen.

Die viel propagierte europäische Identität existiert in Guerots Augen nicht. Unser Streben, dieses Konstrukt kulturell aufzulösen, sein ein Fehler: Die normative Gleichheit vor dem Gesetz reicht, kulturell müsse sich Europa (wie bisher) föderalistisch organisieren. Heimat und Gleichheit. Um vom Nationalen wegzukommen, gilt es, zuerst die Theorie zu verstehen, um daraus dann politische Lösungen zu gestalten.

Der Schritt von der Utopie zur Realität sei, die Dinge klar zu formulieren: das Ziel formulieren, den Weg dorthin – und all dies beharrlich einzufordern. Jacques Delors‘ Grundsatz war:

Was man heute nicht sofort erledigen kann, muss man auf eine definierbare Zeitschiene setzen. Den Weg zum Ziel muss man in mindestens drei konkrete Schritte herunterbrechen. Politische Diskussionen, eine Streitkultur, gehören zu diesem Prozess und sind auch notwendig – solange man das Ziel nicht aus den Augen verliert. Diese Diskussionen müssen offen geführt werden.

Die Frage aus dem Publikum, wie man den Nationalstaat davon überzeugt, nicht mehr Nationalstaat sein zu wollen, beantwortet Frau Guerot wie folgt:

Ziel des europäischen Projektes sei es immer schon gewesen, den Nationalstaat zu überwinden. Deutschland habe in den letzten 200 Jahren sieben Mal seine Staatlichkeit gewechselt. Die empirische Schlussfolgerung daraus: der Nationalstaat ist nicht das Ende der Geschichte. „Wenn man Dinge nicht neu denkt, wird eine Idee nie Realität.“

Es stelle sich auch nicht die Frage, ob sich die europäischen Staaten tatsächlich integrieren wollen, denn: „Es geht nicht darum, Staaten zu integrieren, sondern darum, Menschen zu vereinen“, so Guerot in einem Essay zum Zustand der EU. Die Bürger unterschiedlicher Länder (= unterschiedlicher Steuer-, Sozial-, Wahlrechtsgesezte) dürfen nicht mehr im Wettbewerb zueinander stehen.

In den Krisen, die Europa in den letzten Jahren durchlebt hat, sei die soziale Komponente verlorengegangen, so Schratzenstaller-Altzinger. Viele aktuelle Probleme hätten eine soziale Komponente. Es fehle eine Diskussion in Europa, welche Themen auf welcher Ebene am Besten zu lösen seien. Das EU-Budget verfolgt weiterhin das alte Modell: 40 Prozent des Budgets gehen in Agrarsubventionen. Hier würde eine Rückübertragung zum Nationalstaat Sinn machen.

Man möge die Populisten nicht überschätzen, mahnt Frau Sully. Sie hätten eine Tendenz zur Selbstzerstörung. Nach dem Brexit hätten die Betreiber keine Verantwortung übernommen. Andererseits:Wwo sind die charismatischen Persönlichkeiten für eine Wende? 25 Ideen für Europa sind zwar gut, aber wer soll sie verkaufen?

Man müsse auch endlich auf die „Verlierer“ hören: Diese kämen seit 35 Jahren unter die Räder und jeder erzählt ihnen, wie gut es ihnen nicht gehe. Werke wie Das Kapital im 21. Jahrhundert von Thomas Piketty würden in den Medien viel zu wenig diskutiert. Mit positiven Maßnahmen (zB Bürgergeld und einer europäischen Arbeitslosenversicherung) könnte man diesen Leute auch wieder glaubwürdig erklären, dass es ihnen besser gehen wird.

Die vielen Worte müssen endlich mit Taten gefüllt werden. Diese Maßnahmen würden, so Elisabeth Hagen, sowohl den „Verlierern“, als auch den Gruppen helfen, gegen die die Populisten oft wettern: Flüchtlinge, Ausländer, Arbeitslose. Würden diese wirtschaftlich marginalisierten Gruppierungen zusammenarbeiten und gemeinsam auftreten, könnten sie viel Druck auf die Regierungen und die EU ausüben.

Credits

Image Title Autor License
Populismus Populismus Phil Plait CC BY SA 2.0
Teilnehmer Teilnehmer Christian Janisch CC BY SA 4.0