Kolonie der Abtrünnigen? Ein Besuch in Independencia in Paraguay

Gesellschaft

„Ich möchte kein Interview geben. Sonst kommen noch mehr Leute in unsere Kolonie!“ Sehr klar kommt Svens Antwort, als ich ihn in seinem Café in Planta Urbana, einem kleinen Dorf 200 Kilometer östlich der paraguayischen Hauptstadt Asunción, besuche. Planta Urbana ist Teil der Kolonie Indepedencia, heute nur noch „Independencia“ genannt und erlebt seit vier Jahren einen regelrechten Ansturm an Neubürgern – vor allem aus Deutschland. Mit den Corona-Einschränkungen und der sichtbar und spürbar zunehmenden Macht des Staates haben viele Europa den Rücken gekehrt, um in Paraguay ein neues Leben zu beginnen.

Mitten im Nirgendwo im Süden Paraguays, ziemlich genau zwischen den Grenzen zu Argentinien und Brasilien, haben 27.000 Menschen ihren Lebensmittelpunkt. Das grüne Land wird von staubigen, sandroten Straßen durchzogen, dazwischen tummeln sich Rinder auf der Weide und nur alle paar hundert Meter stehen Häuser, die von riesigen Ländereien umgeben sind. Warm ist es im Dezember, doch ab und zu türmen sich die Wolken zu gefährlich wirkenden Bergen auf, bis sich der Himmel öffnet und es wie aus Kübeln schüttet. Dann verstummt sogar das alles übertönende und meditative Zirpen der Zikaden in den Bäumen. Idyllisch und ruhig ist es. Wirtschaftlich hat die Region wenig zu bieten.

Aber Independencia ist seit mehr als 100 Jahren ein Sehnsuchtsort für deutsche Auswanderer. Badische Winzer gründeten 1919 im Department Guairá eine Kolonie und nannten sie „Independencia„, Unabhägigkeit. Die paraguayische Regierung stellte insgesamt 10.000 Hektar Land für die Einwanderer zur Verfügung, mit dem Lineal feinsäuberlich durch Lineas aufgeteilt: Jeweils zehn Hektar gingen an Alleinstehende und 20 Hektar Land an Familien. Später kamen auch österreichische und Schweizer Siedler. Den Weinanbau der Badener gibt es so gut wie nicht mehr, weil Weine aus Chile den Trauben zu viel Konkurrenz machten: Heutzutage wird vor allem Mate, Baumwolle und Zuckerrohr angebaut. Relativ fruchtbar ist der Boden, der überwiegend aus Lehm und Sand besteht, in Independencia und drum herum.

Leben in der Kolonie: Selbstverantwortlich und frei

Entlang der Hauptstraßen mischen sich unter unzählige Gomerias, Auto-Werkstätten, auch kleine Supermärkte, Bistros und Geschäfte für den täglichen Bedarf. So wie das Café von Sven. „Wir führen hier ein Leben, wie es sich 90 Prozent der Einheimischen nicht leisten können“, führt der Mittvierziger bei meinem Besuch weiter aus und meint damit den Lebensstandard der „Kolonisten“. Er selbst ist vor einigen Jahren aus dem Norden Baden-Württembergs in die deutsche Kolonie ausgewandert. Seiner Kinder wegen, wie er sagt: „Ich wollte ein besseres, freieres und selbstbestimmteres Leben für sie.“ So wie er sehen das viele „Neukolonisten“.

Paraguay hat sich seit 2020 zu einem der beliebtesten Ziele für deutsche Auswanderer entwickelt. Schon damals gab es 166.000 Deutschsprachige im Land, die Zahl dürfte mittlerweile weit höher liegen. Weitere 19.000 sprechen Platdietsch, einen ostniederdeutschen Dialekt, der von den Russlandmennoniten gesprochen wird. Mennonitenkolonien gibt es in der Gegend ebenfalls. Paraguay ist so groß wie Deutschland und die Schweiz zusammen, beherbergt aber nicht einmal sieben Millionen Menschen. Insgesamt haben 420.000 Menschen eine deutsche Abstammung (sieben Prozent der Bevölkerung). Passend zum Namen such(t)en die Auswanderer nach einem selbstbestimmten, freien Leben, von dem sie das Gefühl haben, es in Europa nicht mehr führen zu können.

Wer seine zehn Prozent Steuern zahlt und sich an die Regeln hält, den lässt die Regierung weitgehend in Ruhe. „Hier gibt es keine Gängelung und keine Rechtfertigung“, wird mir überall erzählt. Dafür sind die Paraguayer und die (Neu-)Kolonisten weitgehend auf sich selbst gestellt. Die Polizei steht zwar öfter an einer der großen Kreuzungen, bevor man den Asphalt verlässt und über Sand zu den „Linien“ fährt. Der Staat halte sich aber weitgehend heraus, erzählt man unisono. Fast überall kann man Deutsch sprechen.

Deutsche Traditionen werden hochgehalten

Independencia ist ein gutes Beispiel dafür, wie zwei Kulturen friedlich und produktiv koexistieren können. Die Deutschen und Deutschstämmigen treffen sich in deutschen Restaurants, Vereinen und Schulen, wie etwa im Deutschen Sportverein mit Gaststätte und Veranstaltungsraum, wo Anfang November das weit über die Koloniegrenzen hinaus bekannte „Chopp-Fest“ stattfindet: Es ist dem berühmten Münchener Oktoberfest nachgeahmt, wo man sich in Dirndl und Lederhosen unter die einheimischen Paraguayer mischt und 70.000 Liter Bier verkauft werden!

Independencia ist ein Stück Deutschland mitten in Südamerika. Keine 15 Kilometer weiter liegt Carlos Pfannl, wo sich Siedler aus Österreich niedergelassen haben. Dort habe ich Isolde Bauer (57) getroffen, deren Familie eigentlich aus Wiener Neustadt kommt. Sie und ihr Mann Anton (65) leben von dem, was ihr Land abwirft und betreiben Viehwirtschaft. Die Küche der Bauers wirkt wie eine alte Küche aus Österreich, Isolde serviert selbstgebackenen Kuchen, der so gut ist, dass ein Stück davon nicht reicht. Und dann reden wir über ihre Familiengeschichten und wie es sich für sie anfühlt, zu Besuch in Wien zu sein.

Kuchen und Torte gibt es auch bei Helga Mayer (61) – wer in Independencia deutsche Konditoreien und deren Spezialitäten vermisst, wird bei ihr fündig. Sie backt nach deutschen Rezepten. Die Zutaten bekommt sie im Supermarkt, wo sie oft teuer aus Europa importiert werden. Genauso wie ein Regal voll Lebkuchen im kleinen Supermarkt Almacen50, die es genauso in Deutschland gibt.

Traditionen wie Feste, Bräuche und Rezepte machen es noch attraktiver für Neukolonisten – die zwar ihre eigenen Häuser bauen und dabei manchmal an der Arbeitsmoral der Paraguayer verzweifeln, aber über die Freiheit nicht glücklicher sein könnten. Ob Paraguay und besonders Independencia weiterhin so viele Auswanderer anziehen, hängt wohl auch davon ab, ob es so einfach bleiben wird, eine Aufenthaltsgenehmigung (Cédula) zu bekommen. Aber vor allem davon, wie sich Deutschland politisch und wirtschaftlich entwickelt. Platz ist dort genug.

Dieser Bericht wurde erstveröffentlicht auf dem Blog Pillars Of Truth.

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