Kinderarmut in Österreich ist eine Schande
Maria Stern ist Initiatorin des Forums Kindesunterhalt. Ich wurde auf sie aufmerksam, als ich mir das Kurzvideo angeschaut habe, mit dem sie sich als Nationalratskandidatin für die Liste Pilz vorstellte.
Ich sehe das Thema Kindesunterhalt als besonders wichtiges Thema an und bin der Meinung, dass es unbedingt insgesamt zu einer Familienrechtsreform kommen muss, um der Kinderarmut entgegenzuwirken. Zu diesem Thema habe ich nun Maria Stern für uns interviewt:
Frau Stern, wie läuft es denn nun wirklich in Österreich ab? Was passiert, wenn nicht verheiratete Eltern sich trennen, die Kinder bei der Mutter bleiben und der Mann nicht zahlt oder nicht zahlen kann? Wer kommt dann für den Unterhalt auf? Es gibt ausreichend Beispiele dafür, dass es einfach zu lange dauert, bis die Mutter ihr erstes familienunterstützendes Geld erhält, denn die juristischen Mühlen mahlen langsam.
In Österreich sind 93% der Alleinerziehenden Frauen. Sie sind zu 42% von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen (EU SILC 2015). In der Regel zahlen die Väter Alimente.
Wenn sie nicht können oder wollen (besonders Selbstständigen fällt es nicht all zu schwer, ihre finanziellen Verhältnisse zu kaschieren), springt der Staat mit dem Unterhaltsvorschuss ein. Da dieser jedoch eine Regressleistung ist, wird er nur dann bewilligt, wenn der Staat davon ausgehen kann, dass er das Geld eines Tages zurückbekommt. Auch die Höhe der Unterhaltsvorschüsse bemisst sich nicht am Bedarf des Kindes, sondern der Zahlungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen.
Das hat Folgen: Derzeit bekommen 54% der Kinder und Jugendlichen zu wenig und 18% überhaupt nichts, weder Alimente noch Unterhaltsvorschüsse (ÖPA Befragung 2014). Da die juristischen Mühlen extrem langsam mahlen, kann es speziell nach einem Unterhaltsherabsetzungsantrag Monate oder sogar mehr als ein Jahr dauern, bis die Kinder das ihnen rechtlich zustehende Geld bekommen.
Was genau ist Kindesunterhalt? Bedeutet dies die Unterstützung des anderen Elternteils, sofern es zu einer familiären Trennung kommt?
Beide Elternteile tragen Verantwortung, auch finanziell. Der Elternteil, bei dem das Kind hauptsächlich aufwächst, leistet seinen Teil in der täglichen Care-Arbeit, dem Bezahlen von Miete, Energie, Lebensmitteln, Kleidung etc. Der getrennt lebende Elternteil ist zur Zahlung der Alimente verpflichtet, denn Kinder kosten.
Derzeit wird es den Unterhaltspflichtigen aber relativ leicht gemacht, ihren Teil der Verantwortung nicht zu übernehmen.
So brechen überproportional viele Väter den Kontakt zu ihren Kindern ab, wenn sie eine neue Beziehung eingehen. Viele fürchten die Alimentationszahlungen oder ihre wachsenden Schulden beim Staat und wandern aus. Mütter können das nicht, sie tragen allzu oft die alleinige Verantwortung.
Ich möchte jedoch betonen, dass es auch Väter gibt, die sich ihrer Verantwortung mit viel Liebe und Kraftanstrengung stellen. Leider zeigen sich aber auch in Österreich die Folgen der Weltwirtschaftskrise: Es gibt Väter, die finanziell mehr leisten wollen, aber nicht können. Diese beantragen dann oft die Doppelresidenz.
Diese wird auch „Wechselmodell“ genannt und bedeutet, dass das Kind in zwei Haushalten lebt. Die Doppelresidenz ist sehr umstritten und darf niemals staatlich verordnet werden, wie in Deutschland derzeit diskutiert wird.
Welchen Weg muss ein alleinerziehender Elternteil in Österreich gehen, um Kindesunterhalt beanspruchen zu können?
Die meisten Mütter gehen zum Jugendamt und übertragen diesem das Prozedere rund um die Unterhaltsvorschüsse. Bruno Kreisky führte diese Regelung ein, die damals revolutionär war.
Mittlerweile hat das Vorschussgesetz aber riesengroße Löcher und bedient einen aufgeblasenen Verwaltungsapparat. Wenn man die Gerichtskosten wegen oftmals überlanger Verfahren dazunimmt, kann man von einer gut verwalteten Kinderarmut sprechen.
Kinder aus Ein-Eltern-Familien sind mehr als doppelt so oft von Armut betroffen wie ihre Freundinnen und Freunde.
Andere Mütter nehmen sich einen Anwalt, und manchen Eltern gelingt es, sich untereinander zu einigen. Bei diesen Eltern macht sowohl die gemeinsame Obsorge als auch die Doppelresidenz Sinn, da sie Paktfähigkeit beweisen.
Bei zerstrittenen Eltern sehe ich beide Regelungen sehr skeptisch, da die Streitereien, die zur Trennung/Scheidung führten, allzu oft bis zur Volljährigkeit des Kindes auf dessen Rücken ausgetragen werden. Es gibt viele Fälle, in denen die Väter alle Rechte (und keine Pflichten) haben, selbst wenn sie gewalttätig waren. Hier müssen wir im Rahmen einer Familienrechtsreform dringendst evaluieren und nachbessern.
Wie lange dauert es, bis das alleinerziehende Elternteil finanzielle Unterstützung vom anderen erhält?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich kenne Fälle, wo es fünf Jahre dauerte.
Die Kindesunterhaltssicherung hat drei Säulen:
- Auszahlung in der Höhe der Regelbedarfssätze.
- Dauer der Auszahlung bis zum Ende der Ausbildung. Derzeit werden Unterhaltsvorschüsse nur bis zum 18. Geburtstag ausgezahlt; danach muss das Kind selbst klagen, was aber in der Praxis kaum geschieht.
- Was vom Unterhaltspflichtigen nicht gezahlt werden kann, wird vom Staat aufgestockt.
Ich plädiere dafür, dass das Finanzamt eingebunden wird, wenn es darum geht, die Zahlungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners zu eruieren.
Es muss dezidiert ausgeschlossen werden, dass das Kind die Folgen einer Unterhaltsherabsetzung zu spüren bekommt oder verpflichtet werden kann, bei Volljährigkeit selbst zurückzuzahlen.
Wie sieht das Modell, das Ihnen vorschwebt, denn genau aus? Bedeutet das “neue Modell”, dass der Vater (in den meisten Fällen) nicht mehr unter Regress steht? Dass er also dem Staat, falls er nicht zahlen kann, dann auch nichts schuldet?
Der Regress macht dort Sinn, wo etwas zurückzuholen ist. Beide Eltern müssen Verantwortung tragen. Ich bin aber dafür, dass Väter nicht unter das Existenzminimum gepfändet werden, da dies all zu oft zu Kontaktabbrüchen führt.
Väter profitieren übrigens auch von der Sicherung des Unterhalts! Ich habe mit vielen von ihnen gesprochen:
Sie leiden nicht nur unter der Trennung/Scheidung, sondern auch darunter, dass ihr Kind in Armut aufwächst, ohne dass sie etwas dagegen tun können!
Sie sprechen vom “schwedischen Modell”. Ist dessen Anwendung auch in Österreich möglich? In wieweit lässt es sich auf österreichische Verhältnisse adaptieren?
Alles lässt sich adaptieren.
Es ist eine Frage des politischen Willens und der Wertigkeit: Was sind uns unsere Kinder wert?
Gleichzeitig ist es eine Frage der Vernunft: Derzeit zahlen wir jährlich Millionenbeträge für Gerichtskosten und den Verwaltungsapparat. Wir zahlen, langfristig betrachtet, aber auch die lebenslangen Folgekosten in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt und Gesundheit. Da bin ich dezidiert für das Investieren in die Armutsprävention!
Sie sprechen von Kinderarmut. Eines ist sicher: Ist die Mutter arm, ist das Kind arm. Der Zustand Armut ist mit der Mutter genauso verbunden wie die Mutter mit dem Kind. Was sagen die Statistiken darüber, wie viele alleinerziehende Familien von Armut betroffen sind?
Die Kinderarmut ist in Österreich eng verknüpft mit der Frauenarmut. Derzeit sind die Mütter im Schnitt besser ausgebildet, bleiben aber nach der Geburt des Kindes lange zu Hause und steigen dann nur mit Halbtagsjobs wieder ins Berufsleben ein. Das kann persönlich die beste Entscheidung sein, wird jedoch mit Armut abgestraft. Das darf nicht sein!
Deswegen muss es, meiner Meinung nach, auch Teil der Familienrechtsreform sein, dass Väter zu 50% in Karenz und dann auch in die Elternteilzeit gehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir innerhalb kurzer Zeit ausreichende Kinderbetreuungsplätze hätten, wenn Kinder nicht mehr hauptsächlich „Frauensache“ wären.
Ich bin auch dafür, dass die gemeinsame Obsorge und die Doppelresidenz an die Beteiligung der Väter vor der Trennung/Scheidung gekoppelt wird. Viele entdecken ihre Vaterschaft ja erst danach. Das liegt auch daran, dass Männer in Österreich überproportional mehr verdienen als Frauen. Dem muss entgegengewirkt werden.
In Schweden gehen 70% der Väter in Karenz, dort gehört es längst zum guten Ton. Um das zu erreichen, muss die Politik mit steuerlichen Anreizen gestalten, die besonders in der gleichteiligen Elternteilzeit zum Zug kommen. Hier hat der Staat eine Verantwortung.
Wie sieht es denn mit den zusätzlichen Leistungen aus, mit denen der Staat bereits fördert – reichen diese nicht aus, um Mütter vor Armut zu schützen? Oder gibt es da besondere unsichtbare Hürden, die kaum zu bewältigen zu sein scheinen?
Nein. Österreich liegt beim Gender Pay Gap im Europavergleich seit Jahren an vorletzter Stelle (vor Estland). Wir müssen endlich unsere Hausaufgaben machen.
Wann glauben Sie, darf man mit einer Unterhaltsrechtsreform rechnen? Noch vor der Wahl sieht es ja schlecht aus, wie man den Medien entnehmen darf. Warum wurde der Antrag Ihrer Meinung nach abgelehnt?
Dank Peter Pilz ist das Thema endlich prominent angekommen. Dass es nicht zum Beschluss kam, liegt daran, dass sowohl ÖVP als auch FPÖ es schaffen, wirklich jedes Thema auf die „Ausländerfrage“ zu reduzieren.
Nachdem sowohl die ÖVP als auch die FPÖ Anträge einbrachten, die die Situation vieler Familien nicht verbessern würden, wird vorerst weiter diskutiert.
Sie sprechen auch von Elternteilen (vorwiegend Müttern), denen man die Armut nicht ansieht. Armut ist gesellschaftlich mit Sicherheit ein beschämender Zustand. Was möchten Sie diesen Müttern/Vätern hier auf diesem Weg mitgeben?
Schämt euch nicht! Nicht eure Armut ist beschämend, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die die Armut sehenden Auges produzieren. Redet! Schließt euch zusammen! Haut auf den Tisch!
Und nun noch zuletzt eine Frage, die Sie sicherlich öfter hören: Wie haben Sie es geschafft, sich neben Job und Kindern auch noch für das Unterhaltsgesetz zu engagieren?
Weiß ich nicht. Meine Ohnmacht verwandelte sich wohl in zielgerichtete Aktivität.
Ich bin keine Wutbürgerin, weil das kontraproduktiv ist. Ich bin an der gesellschaftlichen Evolution, die sich den Menschenrechten verschrieben hat, interessiert.