Gut genug ist genau richtig!
In dem Ausdruck ‚gut genug‘, schwingt da nicht irgendwie Kritik mit? Zugegeben, ‚gut genug‘ ist ausreichend. Aber ‚gut genug‘ insinuiert doch, dass man es besser machen könnte, dass man sich mehr Mühe geben könnte. Vielleicht auch, dass man sich nicht genug angestrengt hat? Von ‚perfekt‘ ist ‚gut genug‘ jedenfalls meilenweit entfernt – oder?
Passt ‚gut genug‘ in unsere Zeit? Oder sind wir alle im Höher-Weiter-Besser-Schneller-Modus? Viele Eltern möchten ihren Kindern einen Vorsprung im Leben verschaffen, dafür muss alles perfekt ablaufen, der zweisprachige Kindergarten ist die Mindestanforderung, Klavier, Ballett, Kampfkunst-Training, dazwischen dann Kinderyoga, damit der Stress leichter zu verkraften ist. Braucht das ein Kind wirklich alles?
‚Gut genug‘ passt nicht zu dem Bild von der Mutter unserer Zeit, denn die Karrierefrau mit zwei bis drei Kindern hat natürlich abgesehen von einer glücklichen Familie auch noch den Haushalt fest im Griff. Was muss man heutzutage als gute Mutter alles tun? Bewertungen sind rasch bei der Hand: Spontangeburt ist gut, Kaiserschnitt ist schlecht. Stillen ist gut, Fläschchen geben ist schlecht. Tragen ist gut, Kinderwagen ist schlecht. Weite ist gut, Pucken (Anm. eine Wickeltechnik) ist schlecht. Auf die Schnelle fallen mir noch zig andere Dinge ein, die man in gut oder schlecht kategorisiert – als ob das Leben nur aus schwarz und weiß bestehen würde!
Die meisten Menschen bedenken nicht, was sie mit dieser Kategorisierung bei frisch gebackenen Eltern bewirken. Viele Mütter und Väter müssen in einer Zeit, in der sie ohnehin sehr empfindsam, vielleicht sogar psychisch etwas instabil sind, gegen Vorurteile anderer ankämpfen, bekommen ein schlechtes Gewissen oder machen sich womöglich gegenseitig Vorwürfe. Sie meinen, sich vor anderen Familienmitgliedern rechtfertigen zu müssen. Sie vergleichen sich und ihr Tun mit dem anderer Eltern – dabei ist jede Mutter und jeder Vater ohnehin die Expertin oder der Experte für ihr/sein Kind. Zweifeln, rechtfertigen, vergleichen … mit all dem erlegen sich Eltern selbst einen großen Druck auf, um für ihr Kind die perfekte Mutter oder der perfekte Vater zu sein – es wäre doch undenkbar, nur ‚gut genug‘ zu sein!
Was aber, wenn ‚gut genug‘ genau das Richtige ist?
Es gibt einleuchtende wissenschaftliche Überlegungen dahingehend, dass menschliche Babys zu früh auf die Welt kommen verglichen mit den Babys von Menschenaffen. Das liegt ganz vereinfacht gesagt an der aufrechten Haltung der Menschen, die dazu geführt hat, dass im Laufe der Evolution das menschliche Becken schmäler wurde und Babys, wenn sie noch ein paar Monate länger im Bauch der Mutter bleiben würden, nicht mehr durchpassen könnten. Babys sind also eine physiologische Frühgeburt, sie wären ohne die intensive, umfassende Betreuung der Eltern nicht lebensfähig. Abgesehen von Milch und Schlaf brauchen sie sehr viel Berührung und Körperkontakt. Alle physischen und psychischen Erfahrungen, die sie in der Beziehung zu ihren Eltern machen, helfen ihnen dabei, ein stabiles Körper-Ich zu entwickeln. Dieses sorgt dafür, dass sich das Baby lebendig und geliebt fühlt, wichtige Voraussetzungen, um die Welt erleben und entdecken zu wollen.
Das Körper-Ich hilft dem Baby aber auch zu verstehen, dass es ein eigener Mensch ist, also unabhängig von der Mama, was ihm anfangs noch gar nicht klar ist. Es empfindet sich selbst und Mama als eine Einheit, die nicht getrennt werden kann. In den ersten Wochen, solange das Körper-Ich noch nicht fertig entwickelt ist, schwankt das Baby zwischen Gefühlen von Befriedigung seiner Bedürfnisse auf der einen Seite und Angst auf der anderen – eine Angst vor der Weite, Angst auseinander zu fallen, Angst vor dem vielen Raum, der es umgibt, den es als Fötus noch nicht hatte. Diese Angst können Eltern ihrem Baby ganz einfach nehmen: durch Berührung, Körperkontakt, sanftes Pucken und Halt. Nach der Geburt ist es notwendig, dass das Kind viel Erfahrung mit Hautkontakt, Blickkontakt, Geruch und Stimme der Eltern macht, denn das fühlt sich gut und vertraut an, so wie zuvor im Mutterleib. Dieses aktive Spüren zeigt dem Baby auf, wo seine Haut ist, also wo sein eigener Körper endet und wo Mamas oder Papas Körper anfangen. Die Haut wird zu einer schützenden Hülle mit Hilfe derer das Baby lernt, wo innen und außen ist.
Eltern, die auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einfühlend reagieren und sie in den Arm nehmen, vermitteln ihren Babys aber nicht nur ein Gefühl des eigenen Körper-Ichs, sondern zeigen ihm, dass sie alle seine Bedürfnisse wichtig nehmen, dass sie es liebhaben und wertschätzen. Kinder, die solche Erfahrung machen, entwickeln zumeist eine sichere Bindung zu ihren Eltern. Sie können darauf vertrauen, dass Mama und Papa für sie da sind. Sie sind mit ihren Problemen oder ihrem Kummer nicht alleine.
Der englische Kinderarzt Donald Winnicott kam zu dem Schluss, dass eine Mutter nicht immer gut sein muss und ihr Baby nicht immer verstehen muss. Es ist für die gesunde Entwicklung des Babys förderlich, wenn sie eine ‚hinreichend‘ gute Mutter ist, die dem Baby überwiegend (aber nicht ausschließlich!) positive Erfahrungen vermittelt. Eltern versuchen für das Baby emotional erreichbar zu sein, seine Bedürfnisse zu verstehen. Das ist aber nicht immer möglich, denn es gehört nun mal zum Leben dazu, dass auch negative Gefühle aufkommen. Dadurch stellt sich für Babys die Aufgabe, mit den negativen Emotionen der Eltern umgehen zu lernen und das ist gut so. Es ist wichtig, dass jeder seine Gefühle und Gedanken haben darf und sich dafür nicht schuldig fühlen muss.
Sich mit dem Baby zu beschäftigen, es auch einfach nur einmal zu beobachten, Gedanken schweifen zu lassen und sich an seinem Kind zu erfreuen, all das erzeugt Gefühle, die auf das Baby übertragen werden. Es ist hilfreich für seine positive Entwicklung. Alltägliche Aufgaben wie baden, wickeln, füttern aber auch Formen des Umgang mit einander wie Blickkontakt halten, über den Kopf streicheln, all das sind Kommunikationsformen, die dem Baby vermitteln, geliebt zu werden. Sind diese Erfahrungen zur Genüge vorhanden, kann das Baby auch mit negativen Situationen umgehen.
Im Rahmen einer normalen, gesunden Entwicklung nimmt die Bereitschaft der Eltern, bei jedem Bedürfnis des Babys zur Stelle zu sein, automatisch ab. Das sind negative Erfahrungen, die Eltern ihren Kindern zumuten. Dieser Wechsel von Trennung und Wiedervereinigung ist für die kindliche Entwicklung aber sehr wichtig ist. Trennungserfahrungen und Frustration gehören zum Leben und können vom Kind ausgehalten werden, wenn es sie in kleinen Dosen erhält. So kann beispielsweise die abwesende Brust, an die sich das Baby kuscheln möchte, bei ihm die Erinnerungen an die liebevolle gute Brust auslösen. Es lernt also, etwas Positives aus der Erinnerung in seiner Vorstellung wach zu rufen und sich daran zu erfreuen oder sich darauf zu freuen.
Ständiger physischer Kontakt, um eine Trennung zu vermeiden, ist dann nicht notwendig und darüber hinaus auch nicht sinnvoll, wenn damit keine emotionale Erreichbarkeit verbunden ist. Ist diese emotionale Erreichbarkeit aber gegeben, müssen Mama oder Papa nicht ständig körperlich da sein, weil das Kind nach und nach genug Selbständigkeit und Widerstandsfähigkeit entwickelt, um seine Gefühle selbst steuern zu können.
Neben der Körpernähe, der Wärme, den Berührungen und dem Blickkontakt ist die Sprache unerlässlich für die Bildung einer Eltern-Kind-Beziehung. Schon Babys reagieren auf die Emotionen, die in den Worten mitklingen, sie verinnerlichen sie und merken sich diese als positive Erfahrungen. Nach und nach lernen sie, sich selbst zu beruhigen. Darüber hinaus entwickeln Babys, denen ihre Eltern einen gewissen Grad an Selbständigkeit und Selbstverantwortung zutrauen und zugestehen ein gutes Koordinationsvermögen.
Eltern, die ‚gut genug‘ sind, bringen ihrem Kind größtenteils liebevolle, positive Emotionen entgegen. Sie lassen sich aber auch anmerken, wenn sie gelegentlich negative Gefühle empfinden. Das Baby lernt dadurch, mit jeder Art von Gefühlen der Eltern umzugehen. Die liebevollen Gefühle machen es stark und verleihen ihm Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein. Der Rückhalt und die Akzeptanz, die diese Kinder spüren, helfen ihnen dabei zu lernen, mit dem Unmut oder der Kritik der Eltern umzugehen. Negative Erfahrungen, mit denen dieses Kind konfrontiert wird, überfordern es nicht und nehmen ihm auch nicht den Appetit aufs Leben oder die Neugierde an neuen Erfahrungen. Sie helfen ihm einfach nur dabei, zu erkennen, dass jeder Mensch Stärken und Schwächen hat und gut mit dieser Erkenntnis zu leben.
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