Gehe lieber, wo kein Weg ist
Nach dem Studium schien es mir einfach noch zu früh dafür, mit dem Arbeitsleben zu beginnen. Ich wollte noch Verschiedenes erfahren, bevor ich einen Job von acht bis fünf (oder vielleicht von sieben bis sieben) ausübte. Obwohl ich schon mein ganzes Leben lang gereist bin – zunächst mit meiner Familie, mit 15 machte ich mich dann zu meinem ersten Solotrip nach England auf, eine Sommersprachschule – reichte mir das nicht. Ich wollte mehr.
Seit der ersten Reise verging kein einziges Jahr, in dem ich nicht unterwegs war. Und obwohl die dreimonatigen Sommerferien genug Zeit boten, um einiges von diesem aufregenden Planeten Erde zu sehen, fühlte ich mich nie völlig frei – da war immer eine Deadline, ein Datum, an dem ich wieder zurück an der Uni sein musste.
Um nur ein paar zu nennen: Ich bewanderte den Camino de Santiago, den Pilgerweg 750 Kilometer quer durch Spanien. Ein wichtiger Meilenstein in meinem Leben: das Ende von etwas und der Beginn von etwas Neuem. Ich arbeitete als Lehrerin in der Volksschule, in die ich als Kind ging – und bekam eine ganz andere Ansicht davon, in einem Klassenzimmer zu sein, es ließ mich die Herausforderungen dieses Jobs verstehen und zeigte mir, was sich seit meiner Kindheit veränderte.
Ich verbrachte eine Zeit als Freiwillige mit syrischen, afghanischen, irakischen und pakistanischen Flüchtlingen in Griechenland und war Teil der humanitären Krise. Ich wanderte nahe dem Dach der Welt, zum Everest-Basislager, arbeitete als Freiwillige in einem ländlichen Krankenhaus in Nepal, reiste durch Indien, lebte mit Nomaden in der Wüste, befuhr die höchste befahrbare Straße der Welt (in Ladakh in Indien) auf einem Motorrad; das war für mich einfach der „Himmel auf Erden“, und tauchte in die Welt der Alternativen Medizin ein.
Alle das veränderte mich. Oft musste ich meine Ängste überwinden, stärker werden – physisch und mental -, ein Vorbild für andere sein, mich selbst zurücknehmen, lachen, auch wenn mir zum Weinen zumute war. Und beide Seiten einer Situation verstehen: z.B. die der Flüchtlinge, die ihr Leben zu retten versuchten, aber auch die der Regierung, die überfordert und nicht auf die Situation vorbereitet ist.
Ich habe gesehen, was es bedeutet, dem Tod ins Auge zu blicken: nicht zu wissen, ob die Familie in Syrien noch am Leben ist, weil der Kontakt abgebrochen ist. Deine Kinder an einer ernsthaften Krankheit leiden zu sehen und nicht in der Lage zu sein, die nötige Hilfe zu beschaffen. Einen gerissenen Blinddarm zu haben, aber nicht ins Krankenhaus zu gehen aus Angst, die Chance zur Überquerung der Grenze zu verpassen. Mitten in der Nacht in einem Schlauchboot auf hoher See umgeben von hohen Wellen zu sein, und während das Boot langsam voll Wasser läuft, nichts anderes tun zu können, als den anderen um dich herum beim Sterben zuzusehen.
In Griechenland sah ich diese Augen. Augen von Vätern, Müttern und Kindern, die dem Tod begegnet waren. Ich werde diese Augen niemals vergessen. Wenn ich davon erzähle, zittert meine Stimme immer noch und ein heftiger Schauer läuft mir über den Rücken. Krieg ist schrecklich, und was diese Menschen durchgemacht haben, ist noch schrecklicher. Und für viele von ihnen ist es noch immer nicht vorbei.
Ich habe mit vielen Flüchtlingen gesprochen, und natürlich waren sie alle verzweifelt. Oft hörte ich: „Ich möchte nicht mehr leben, ich will einfach nur sterben.“ Doch von den Leuten, mit denen ich noch immer in Kontakt bin, weiß ich, dass fast alle von ihnen inzwischen in ein anderes Land umgesiedelt wurden, ein Zuhause haben und einigermaßen glücklich sind (so glücklich wie nur möglich). Als ich dies erfuhr, schoss Glück in mein Herz – sie verdienten es wirklich, und ich hoffe, sie können nun etwas Ruhe und Frieden finden.
Und was wir nie vergessen sollten: Es wird immer das Böse in der Welt geben, aber auch stets das Gute – wie in der chinesischen Theorie von Yin und Yang (hell und dunkel; gegensätzliche Kräfte, die miteinander verbunden sind). Mit Menschen zusammenzuarbeiten, die all ihre Zeit und ihr Geld hergaben, um „Fremden“ aus einem anderen Land zu helfen, einige über Monate oder gar Jahre, war das wertvollste Geschenk für mich!
Ich fühlte wirklich überall um mich herum das Gute. Das Gefühl am Ende des Tages, dass du heute etwas gemacht hast, dass du deinen Brüdern und Schwestern geholfen hast, dass du jemanden zum Lächeln gebracht hast, auch im Kleinen – das ist unbezahlbar. Das ist es, was uns zu Menschen macht, und jeder sollte mehr davon zeigen und nicht die Augen vor dem Elends verschließen, weil er zu beschäftigt ist mit sich selbst …
Gehe nicht, wohin der Weg führt, sondern dorthin, wo kein Weg ist, und hinterlasse eine Spur.
Ralph Waldo Emerson
PS: Bleibt dran – es gibt einen zweiten Teil dieses Textes!
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
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