Europa neu gedacht! „Kantönligeist“ auf multinationaler Ebene

Kantönligeist
Meinung

Wenn wir uns Europa anschauen, so sehen wir eine große Zahl von Staaten mit unglaublich langer Geschichte. Von Schweden bis Griechenland, von Ungarn bis Portugal: Alles Länder mit langer eigener Vergangenheit. Manche davon haben längst nicht mehr die Größe, die sie einst hatten. Andere sind im Lauf der Zeit größer geworden. Obwohl wir auf unserem Erdteil ebenfalls eine Union gebildet haben, hat unser Kontinent wenig Ähnlichkeit zu Nordamerika und  die EU ebenso wenig zu den USA.

Europa ist nicht die Abspaltung von Kolonien vom Mutterland und auch kein Genozidversuch an den Ureinwohnern, sondern war ständiger Konkurrenzkampf von Völkern um Ressourcen, Schauplatz grausamer Kriege – und in zwei Jahrtausenden hat man kaum eine längere Zeit des Friedens erlebt. Erst nach dem unglaublichsten Menschheitsverbrechen und größten Massenmord aller Zeiten, ausgehend vom Nationalsozialismus, kam die Einsicht, dass wir Europa gemeinsam bewohnen und zusammen leben müssen, ohne uns dabei gegenseitig auszulöschen.

Und erst seitdem sich in Europa Staaten, die sich feindlich gegenüber gestanden waren – wie England, Deutschland und Frankreich – nach und nach zu einem immer größer werdenden Bund zusammengeschlossen haben, haben wir die längste Friedensperiode, die es jemals auf diesem Kontinent gab.

Die Existenz der Europäischen Union war auch kein Thema und wurde auch nicht infrage gestellt, solange es keine ernsthaften Krisen innerhalb der Gemeinschaft gab. Als jedoch 2008 die Wirtschaftskrise die Welt erschütterte und in der Folge dann die Griechenland-Krise aufbrach, entstanden die ersten Risse. Der Nationalismus wurde wieder populär. Die Flüchtlingswellen aus dem Süden einige Jahre später ließen dann in vielen Staaten einen rasanten Aufstieg der sehr national gesinnten Bewegungen, die die EU ablehnen, entstehen.

Spätestens jetzt zeigte sich, dass die ganze Konstruktion für ein geeintes Europa eine sehr brüchige ist.

Ungarn, Polen, Griechenland, Deutschland, Österreich und Spanien: Überall beginnen sich wachsende Teile der Bevölkerung zu fragen, was die EU-Mitgliedschaft noch an Gewinn bringt und wie sehr sie die Souveränität einschränkt. Beschlüsse der Kommission, des Parlaments, sogar die des Rats werden oft ignoriert und nicht umgesetzt.

Gibt es noch Hoffnung? Kann man die Zerrissenheit des Kontinents noch flicken, oder ist es nur noch eine Frage der Zeit bis zum Ende Europas? Werden in letzter Konsequenz dann doch wieder Kriege aufflammen?

Es gibt Hoffnung. Aber dies würde bedeuten, dass Europa neu gedacht werden müsste. Die Länder können keine Union bilden; das ist eine Illusion, da die Staaten eifersüchtig darauf bedacht sind, ihre Eigenständigkeit zu wahren.

Wir benötigen also eine andere Form der Zusammenarbeit, die mehr dem Charakter unseres Kontinents entspricht. Und da ist die Schweiz ein wirklich gutes Modell: Ein Land mit mehreren Sprachen, sehr großem Beharrungsvermögen der einzelnen Teile und trotzdem eines der reichsten Länder des Kontinents.

Dieses Land hat sich eine Herrschaftsform gegeben, die einen Ausgleich zwischen den kleinen Teilen und dem Ganzen schafft. Bei dem sich weder die lokalen Teilbereiche übergangen fühlen, noch das Ganze aus den Augen verloren wird.

Auch Europas Staaten haben einen „Kantönligeist„. Sie stützten sich auf das nationale Erbe und versuchen, spezifische Interessen des eigenen Landes besonders zu wahren und zu verteidigen. Nur ungern geben sie Kompetenzen ab. Bei Gefahr und dem Gefühl von Bedrohung kapseln sich viele der Staaten ab. „Lieber heiliger St. Florian, lass mein Haus in Ruh, zünd das andere an!“ ist ein Credo aller Staaten – von einigen mehr und von anderen weniger.

Daher brauchen wir eine ähnliche Form der Balance wie in der Schweiz:

  • Föderalismus: Europa als eine Konföderation mit einer stark betonten Autonomie ihrer Nationalstaaten und deren Beteiligung in allen Phasen der politischen Willensbildung.
  • Parallelbeschlüsse: Die prinzipielle und ausnahmslose Entscheidungsfindung in je zwei Phasen. Jeweils die für die EK gesamt wirksame und die jeden Staat einzeln einschließende Methode ist anzuwenden, und nur bei Mehrheit in beiden Fällen entsteht ein gültiger Beschluss.
  • Mehr direkte Demokratie: Durch eine EK-Initiative, die bei genügend hoher Anzahl von Unterstützung zur verpflichtenden europaweiten Abstimmung (samt Abstimmung je Staat) wird, kann die Bürgerschaft sowohl auf die Tätigkeit der einzelnen Parlamente, einschließlich des Gesamtparlaments, wie auch über die Parlamente hinweg direkten Einfluss auf die Weiterentwicklung der Europäischen Konföderation nehmen.
  • Konkordanz: Es hat der Grundsatz zu gelten, möglichst alle Teile der Bevölkerung ständig in den politischen Prozess mit einzubeziehen und angemessen zu berücksichtigen.

Durch die Einbindung aller bei den Wahlen erfolgreichen Fraktionen in Relation zu ihrer Mandatsstärke im Kollegium (bisher: Kommission) wird erreicht, dass jede Bewegung sich ausreichend vertreten fühlt. Der Nationenrat mit Vertretung aller einzelnen Staaten durch deren Staatenlenkenden (ein Staat, eine Stimme) ist ebenso entscheidend. Nur wenn beide Gremien mit Mehrheit gleich entscheiden, wird daraus ein Beschluss.

Die nächste Ebene ist dann die des EK-Parlaments und der nationalen Parlamente. Soll eine Frage durch die Volksvertretungen entschieden werden, dann müssen das Europäische Parlament und die Mehrheit der nationalen Parlamente diese Entscheidung so fällen. Wenn aber eine Frage die Europäische Konföderation als Ganzes so betrifft, dass sie den zukünftigen Weg des Staatenbundes bestimmen wird, dann kann es durch die Mehrheit der Gesamtbevölkerung Europas und einer Mehrheit von Volksabstimmungen in allen Staaten gemeinsam beschlossen werden.

In jedem Fall ist der Gleichklang Europas als Ganzes und der darin befindlichen Nationalstaaten ausschlaggebend, ob sich etwas in eine bestimmte Richtung verändert oder nicht.

Dadurch würde Europa sich nur so weit bewegen, wie wir es alle wollen, egal wie weltoffen und multikulturell oder grenzbezogen und vorsichtig wir gegenüber Fremden eingestellt sind. Egal wie global oder wie national wir eingestellt sind. Alle müssten Beachtung finden. Dann würden weder die einen, die sich mehr Europa wünschen, noch die anderen, die finden, dass man zuerst an die Menschen im eigenen Land denken müsse, auseinander treiben.

Wir wären ein Europa. Ein Staatenbund, der Menschen Zusammenhalt, Beschäftigung, ausreichend Entlohnung und Sicherheit bietet – nicht Spaltung, Zukunftsangst und Massenarbeitslosigkeit. Ein Gebilde, das Frieden garantiert, aber auch die Bewahrung der nationalen Eigenheiten und Interessen.

Die Europäische Konföderation.

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Kantönligeist Kantönligeist Patryk Kopaczynski CC BY-SA 4.0

Diskussion (2 Kommentare)

  1. Durchaus ein Denkansatz! Bemerkt sei nur: diese Sicht ist verstaendlich wenn man die Geschichte in einem nur relativ beschraenktem Zeitraum betrachtet. Die Sasche sieht anders aus wenn man die, sagen wir mal ungefaehr 16 000 Jahre, Geschichte betrachtet. Dann wird vieles, inklusive des Genozidversuches, wohl anders betrachtet werden muessen. Die grundsaetzliche Tendenz die gesamte „Keltische“ Kultur, die nahezu das gesamte Europa fuer laenger praegte als „wir“ es wohl schaffen werden, auszulassen ist bedauerlich. Danke fuer den Artikel, guter Diskussionsansatz.

    1. Das ist richtig. Wenn man längere Zeiträume betrachtet, dann relativiert sich die Sicht. Tatsächlich hat die Romanisch/Germanisch Hegemonie in Europa die keltischen Kulturen weggewischt. Teilweise assimiliert, aber großteils auch gewaltsam ausgelöscht.
      Auch wir sind letztlich Eindringlinge hier gewesen. 😉