Emotionales Essverhalten erkennen

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Meinung

Seit Kindesbeinen esse ich leidenschaftlich gern. Essen war meine erste große Liebe – das ist mir schon lange bewusst. Das Erste, was mir in der Früh immer in den Sinn kam, wenn ich aufwachte, war: „Frühstück„. Und was mir meine Mutter hätte vorbereiten sollen. Für mich war ein Tag gut oder schlecht je nachdem, was ich den ganzen Tag zu essen bekam. Meine Liebe zum Essen verärgerte meine Mutter, denn sie musste viel Zeit und Energie investieren, um mir gesundes und gleichzeit wohlschmeckendes Essen zuzubereiten. Sonst hätte ich den ganzen Tag lang gemeckert. Kurz gesagt: Gutes Essen war ein Weg, um mich bei guter Laune zu halten.

Jetzt erkenne ich, wie leichtsinnig ich mich all die Jahre verhielt. Wenn ich ganz ehrlich zu mir bin: Ich denke immer noch an Essen, wenn ich morgens aufwache. Und sind meine Geschmacksnerven an einem gewissen Tag nicht beglückt worden, fühle ich mich wirklich schlecht.

Mache ich Ausflüge, besuche ich ein Volksfest oder andere Festivitäten, dann dreht sich alles bei mir darum, meine Geschmacksnerven zu befriedigen. Meine Liebe zum Essen fühlt sich manchmal richtig seltsam an. Doch dass dahinter ein Problem stecken könnte, kam mir nie in den Sinn. Überdies spielen Essen und Trinken in der heutigen Zeit eine bedeutende gesellschaftliche Rolle. Wann auch immer man mit Freunden, Kollegen oder sonst jemandem beisammen sitzt, sind Essen und Trinken von großer Relevanz. Es muss Nahrung oder etwas zu trinken verfügbar sein – ob nötig oder nicht. Manchmal könnte man glauben, dass Essen und die Zeit, die man damit verbringt, eine Art Leere zwischen den Gesprächen füllen sollte. Es scheint, als seien Essen und Trinken eine Voraussetzung, um überhaupt jemanden treffen zu können. Ich weiß nicht, wo dieses Phänomen sonst noch in der Welt existiert, jedenfalls konnte ich diesen Trend um mich herum mitverfolgen.

Als Genussesser hatte die Gastronomie für mich immer die Bedeutung von Geselligkeit. Da ich schon so lange als Gourmet lebte, sah ich nichts Falsches dabei, starke Emotionen mit Essen zu verbinden.

Als ich älter wurde und Stress im Prozess des Erwachsenwerdens zur Begleiterscheinung wurde, musste ich mit Verblüffung feststellen, dass meine Liebe zum Essen exorbitant größer wurde und ich fast jederzeit und vor allem zu unregelmäßigen Zeiten futterte. Nach einiger Selbstbeobachtung wurde mir klar, dass ich Nahrung immer dann benötigte, wenn ich mir emotionale Erleichterung verschaffen wollte. Ich aß also in Stressituationen, um mich besser zu fühlen. Wenn ich wütend, verärgert, gelangweilt oder erschöpft war oder mich einsam fühlte, wandte ich mich dem Essen zu. In diesen Momenten war das Verlangen nach Essen so stark, dass ich dabei die Tatsache, aufgrund von Sattheit gar keinen Hunger zu haben, mit meinem Verstand nicht mehr vereinbaren konnte.

Ich lebe auf einem Universitätscampus, auf dem die Kantinen den ganzen Tag über geöffnet sind. Dort ist es für die meisten Studenten Alltag, nach Mitternacht zu essen. Und am liebsten verzehrt man Junkfood und zuckerhaltige Snacks und trinkt Tee und Kaffee. Ich sorgte mich nie darum, wie ungesund es eigentlich ist, nach Mitternacht noch Junkfood zu konsumieren. Ich aß Junkfood um 3 oder 4 Uhr morgens und rechtfertigte dieses Verhalten damit, dass ich doch die ganze Nacht über studierte und deshalb Essen brauchte. Doch mit der Zeit begriff ich, dass es sich hier nicht um einen körperlich bedingten Appetit handelte, sondern um emotionalen Hunger.

Im Laufe der Zeit und mit viel Selbstreflexion erkannte ich, dass viele Menschen gerne dazu neigen, emotionalen mit physischem Hunger zu verwechseln. Doch in Wahrheit unterscheiden sich diese beiden Regungen total voneinander. Viele Menschen leiden übrigens an emotionalem Essverhalten, ohne es zu wissen. Folglich ist der erste Schritt zur Erkenntis, sofern es sich um emotionales Essverhalten handelt, das Problem zu akzeptieren und hernach das Verlangen, das dahinter steckt, genau zu analysieren: Entsteht der Drang aus einem körperlichen Bedürfnis heraus oder aufgrund unangenehmer Gefühle?

Der erste Indikator für emotional bedingten Hunger ist, dass er urplötzlich auftaucht. Bei unangenehmen Gefühlen kann der Drang nach Essen ziemlich schrecklich sein und nach sofortiger Befriedigung verlangen. Ist der Hunger nämlich körperlich bedingt, dann macht er sich vielmehr in langsameren Schritten bemerkbar und man würde in diesem Fall auch zu selbstgemachten, gesunden Speisen greifen. Jemanden, der hingegen emotionalen Hunger verspürt, kann man nicht mit gesundem Essen, wie z.B. Salat, locken. Das bei dieser Person zu versuchen, wäre für sie unverzeihlich. Emotional bedingter Hunger kann ausschließlich mit Junkfood oder zuckerhaltigen Snacks gestillt werden, was einen sofortigen Rausch auslöst.

Eine weitere Möglichkeit, emotionales Essverhalten zu erkennen: Man neigt dazu, immer mehr essen zu wollen, bis man sich unangenehm gevöllt fühlt. Emotional bedingter Hunger und dessen Verlangen entstehen eher im Kopf als im Magen. Und nach der Bauchvöllerei fühlt sich ein emotionaler Esser auch noch schuldig. Denn er stopfte sich mit ungesundem Zeug und zusätzlichen Kalorien voll. Doch selten führen Schuldgefühle wie diese zu einer schrittweisen Überzeugung, sich beim nächsten Mal nicht wieder in diesen Prozess zu verstricken. Und so setzt sich der Kreislauf fort.

Es klingt so einfach: Sobald man das Problem realisierte, könnte dies der Weg zu seiner Überwindung sein. Doch glaubt es mir: So einfach ist das nicht. Menschen wie wir kämpfen regelrecht darum, unsere Essgewohnheiten bewusst kontrollieren zu können. Ich habe lange daran gearbeitet, doch sobald ich in irgendwelchen emotionalen Situationen wäre, würde ich sofort wieder in mein altes Muster verfallen.

Falls man dazu neigt, dem Drang des emotionalen Essens zu unterliegen, so ist der Ausweg daraus, ständig achtsam zu sein und zu reflektieren. Es gibt nämlich keine idiotensichere Lösung – aber mehrere unterschiedliche Strategien zu verfolgen, würde gewissen Menschen dazu verhelfen, ihr emotionales Essverhalten zu überwinden. Doch das Einzige, was jeder Einzelne wirklich könnte, ist, zu erkennen, wo denn genau der Hunger entsteht: im Magen oder im Kopf.

Übersetzung Englisch-Deutsch: Anna Dichen

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