Eine unschuldige Wunschliste
Manche Erlebnisse ändern unsere Sicht auf Angelegenheiten, mit denen wir uns nur widerwillig befassen, sofern wir sie nicht gleich völlig ignorieren. Solche Begegnungen wühlen etwas auf in uns, das uns glücklicherweise dabei hilft, aus unserem tiefen Schlummer der Gleichgültigkeit zu erwachen. Mein zufälliges Zusammentreffen mit Rani war ein solches Erlebnis.
In einem meiner früheren Artikel schrieb ich über die ungeliebten Straßenkinder der indischen Städte. Und ich möchte sagen, dass die Ansichten und Meinungen, die ich in diesem Artikel ausdrückte, ein Fazit meiner Zufallsbekanntschaft mit Rani waren. Hier will ich nun von diesem Zusammentreffen mit ihr berichten und von all dem, was sie mir innerhalb weniger Minuten erzählte: Wünsche, die so einfach sind, aber dennoch ans Herz gehen.
Ich traf Rani am Connaught Place im Herzen von Neu-Delhi. Dies ist nicht nur das wichtigste Finanz- und Geschäftszentrum der Stadt, hier gibt es auch Galerien mit zeitgenössischer Kunst, Kinos, hochklassige Restaurants, Bars und Schaufenster.
Ich saß auf einer Bank am Connaught Place und wartete auf einen Freund. Dabei beobachtete ich zwei Straßenkinder, die gerade versuchten, etwas Geld von einem verheirateten Paar zu erbetteln. Das Paar machte einen genervten Eindruck und tat alles, um die Kinder zu ignorieren. Nach einer Weile sah eines dieser Kinder, wie ich sie beobachtete, und kam zu mir herüber. Als das Mädchen mich erreicht hatte, sagte sie mechanisch wie ein Papagei: „Gib mir Geld, ich habe Hunger!“ Doch schien sie gleichzeitig völlig desinteressiert an den Worten, die sie aussprach.
Ich fand sie sehr süß und sagte ihr, sie solle sich zu mir setzen. Doch sie lehnte ab und fragte weiter nach Geld. Ich gab ihr einen 20-Rupien-Schein. In dem Moment, in dem sie den Schein in ihrer Hand hielt, erglühte ein helles Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie hatte wohl nur ein paar kleine Münzen erwartet.
Sofort setzte sie sich neben mich. Ich war überrascht und fragte sie, ob sie nicht weitergehen und noch andere Leute nach Geld fragen müsse. Ihre Antwort war: „Mein Ziel für heute habe ich erreicht. Jetzt kann ich tun, was ich will.“ Ich wusste nicht, dass diese kleinen Straßenkinder sowas wie ein „Tagesziel“ haben, wie Erwachsene, die im Marketing arbeiten.
Ich wollte mehr über sie erfahren und begann Fragen zu stellen. Zuerst antwortete sie nicht, weil sie so damit beschäftigt war, das Geld zu zählen, das sie an diesem Tag eingesammelt hatte.
Ich bot an, ihr ein Eis zu kaufen, und diesmal sah ich ein noch helleres Leuchten in ihrem Gesicht, als sie das Wort „Eis“ enthusiastisch wiederholte. Sie begann das Eis genüsslich zu verputzen, und nach ein paar Minuten erzählte sie mir, sie würde Eis so sehr lieben, dass sie den ganzen Tag betteln würde, wenn sie jeden Tag eins bekommen würde. Ihre Worte waren wie ein Stich ins Herz, und ich fühlte einen scharfen Schmerz der Schuld.
Ich fragte sie, was sie mochte und was sie sich wünschte. Nun endlich zeigte sie Interesse daran, mit mir zu reden, und begann, mir von sich und ihren Wünschen zu erzählen. Was ich hörte, versetzte mich für die nächsten paar Tage in eine sehr nachdenkliche Stimmung.
Sie liebt es, mit Puppen zu spielen, hat aber schon seit vielen Jahren keinerlei Spielzeug mehr. Sie besaß nur eine einzige Puppe, und die hat sie verloren. Sie hätte gerne so eine Puppe, wie sie die Straßenhändler in den Straßen um den Connaught Place verkaufen. Sie möchte hübsche Kleider tragen wie andere Kinder, besonders welche mit Rüschen. Als sie mir im Detail beschrieb, was für ein Kleid sie gerne hätte, schmolz mein Herz dahin! Sie möchte auch Lippenstift und Ohrringe tragen und hätte gerne High Heels wie die Frauen, die zum Connaught Place kommen.
Sie wünscht sich, mal ein Auto von innen zu sehen. Sie würde gerne mit dem Bus irgendwo hinfahren, auch wenn sie nicht weiß, wohin. Sie würde gerne eine Schuluniform tragen, will aber nicht lernen. Sie würde gerne mal in einem der Restaurants in der Umgebung essen. Sie zeigte auf eines davon und sagte, sie habe von einem ihrer Freunde gehört, dass das Essen dort sehr gut sei. Ein Tourist hatte ihren Freund einmal dorthin eingeladen. Es war ein McDonald’s.
Ich war sehr glücklich, als ich ihre Aufregung und ihre Freude sah. Mir wurde klar, dass schon ein kleines bisschen Liebe und Zuwendung einen sehr großen Unterschied machen kann für ein Kind, das auf der Straße lebt.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
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Titelbild – Straßenkind – Kalkutta | Biswarup Ganguly | CC BY-SA 3.0 |