Eine Fahrt in die Stadt des Kanafeh: Nablus
Es war nicht leicht, sich zwischen Nablus und Jenin zu entscheiden. Aber die Entscheidung war notwendig, und ich wählte Nablus. Ursprünglich war es vorgesehen, beide Städte an verschiedenen Tagen zu besuchen, aber im letzten Moment änderten die Organisatoren den Plan, und wir waren gezwungen, das zu akzeptieren. Ich frage mich noch immer, warum die Pläne im Jugendcamp nie konkret waren. Diese Änderungen im letzten Moment und die Improvisationen gingen uns allen wirklich auf die Nerven.
Ich wachte am Morgen auf und machte mich bereit, um Nablus zu besuchen. Da wusste ich noch überhaupt nichts von der Planänderung oder von der Entscheidung, die ich treffen musste. Ich ging zum Frühstück. Der Speisesaal war ziemlich weit weg von unseren Schlafräumen, in einem anderen Gebäude. Wir waren in der palästinensischen Polizeiakademie untergebracht, einem ziemlich großen Komplex aus vielen verschiedenen Gebäuden. Während ich von meinem Zimmer Richtung Speisesaal ging, traf ich einen der Organisatoren. Er unterhielt sich gerade mit einer der Teilnehmerinnen, einer im Ausland lebenden Palästinenserin. Sie wirkte ziemlich sauer.
Ich ging an ihnen vorbei zum Speisesaal. Die Atmosphäre dort war unerfreulich, ich spürte die Verärgerung, die in der Luft lag. Bald erfuhr ich, dass die Organisatoren die Teilnehmer darüber in Kenntnis gesetzt hatten, dass wir uns zwischen Nablus und Jenin zu entscheiden hatten. „Ihr könnt nicht beide Städte besuchen, weil dafür nicht genug Zeit ist“, hieß es. Das war aber für keinen von uns akzeptabel.
Endlich, im letzten Moment, wurden alle Teilnehmer versammelt, und die Organisatoren teilten uns mit, dass wir uns in zwei Gruppen aufteilen müssten: Die eine würde nach Nablus fahren, die andere nach Jenin. Das stieß auf großes Unverständnis, eine hitzige Diskussion folgte. Doch die Entscheidung der Organisatoren war nicht zu ändern; wir empfanden sie aber als einen völlig einseitigen Entschluss, der uns aufgezwungen wurde. Sie verhielten sich ein wenig autoritär. Mit Verärgerung im Herzen traf jeder die Entscheidung für die eine oder die andere Stadt. Ich entschied mich für Nablus, obwohl ich Jenin genauso besuchen wollte.
Wir bestiegen also den Bus nach Nablus. Ein aus dieser Stadt stammender Palästinenser erklärte sich bereit, unser Führer zu sein, und begann, uns ein paar wichtige Dinge über Nablus zu erzählen.
Wir erfuhren, dass es in der Altstadt von Nablus viele archäologische Stätten gibt sowie mehrere Moscheen und Hamams, außerdem zahlreiche Gerbereien, Töpfereien, Textilwerkstätten und Souks. Darüber hinaus ist Nablus berühmt für seine Seifenindustrie und das „Kanafeh“.
Wir begannen, zur Altstadt zu spazieren. Der Weg dorthin führte durch viele Souks, vorbei an Straßenverkaufsständen und Läden mit verschiedenen Waren, Gemüse und Snacks. Ich wette, dass jeder, der sich in Nablus nicht auskennt, sich ständig verirrt in den labyrinthischen Straßen der Altstadt. Ich gebe zu, dass ich diese labyrinthischen Pflasterstraßen in Palästina liebte. Sie gaben mir das Gefühl, durch ein uraltes Land in einer fernen Vergangenheit zu gehen. So oft habe ich mich verlaufen in diesen engen Pflastergassen, die auf beiden Seiten von Läden gesäumt waren.
Schließlich erreichten wir einen Platz, an dem uns allen empfohlen wurde, eine Pause zu machen und Kanafeh zu probieren, denn dort befand sich einer der ältesten und berühmtesten Läden für diese Spezialität. Ich wurde sehr aufgeregt. Ich hatte schon von dieser berühmten Süßspeise aus Nablus gehört, die im 15. Jahrhundert entstand und in das gesamte Osmanische Reich exportiert wurde. Die Süßspeise wurde im ganzen Nahen Osten bekannt, aber bis heute genießt das „Nabulsi Kanafeh“ unbestrittenen Ruhm. Uns wurde auch gezeigt, wie es zubereitet wird.
In dem Moment, in dem ich einen ersten Bissen davon probierte, wurde mir klar, warum es so berühmt ist: Es zerschmolz in meinem Mund und war ausgesprochen lecker! Wir nahmen ein paar Schachteln davon mit für jene, die nach Jenin gefahren waren: Sie sollten das Nabluser Kanafeh nicht nur deswegen versäumen, weil sie sich für Jenin entschieden hatten.
An den Kanafeh-Laden grenzte eine der ältesten Seifenfabriken der Stadt an; es war eine von nur zwei Seifenfabriken, die von den einst dreißig, die es Ende des 19. Jahrhunderts in Nablus gegeben hatte, noch übrig waren.
Ich erfuhr, dass die Nabluser Seifen, die noch immer den Ruf bester Qualität genießen, aus Olivenöl erster Pressung, Wasser und einer Natriumverbindung hergestellt werden. Sie werden in kleinen, würfelförmigen Stücken produziert, die den Prägestempel der Fabrik tragen. Bei einer Führung durch die Fabrik erklärte uns deren Besitzer die Arbeitsschritte, mit denen Olivenölseife auf traditionelle Nabluser Art hergestellt wird. Die Seifenfabrik war ein sehr altes Gebäude, um die 400 Jahre alt. Nach der kurzen Führung entschloss ich mich, ein paar Seifenstücke zu kaufen; sie waren mehr als Souvenirs gedacht als zur tatsächlichen Benutzung.
Wir besuchten danach noch einige weitere wichtige Denkmäler in der Altstadt wie den al-Manara-Uhrenturm, der 1905 erbaut wurde, und einen Gewürzladen, auch dieser einer der ältesten in Nablus. Es war ein so aufregendes Gefühl, die engen Gassen der Altstadt zu durchstreifen!
Nablus hat eine lange Tradition von politischem Aktivismus und war während der ersten und zweiten Intifada an vorderster Front. Dies führte dazu, dass die Stadt zu einem Brennpunkt bei den Auseinandersetzungen zwischen der israelischen Armee und den Palästinensern wurde. Sie machte mehrere Tage mit 24-stündigen Ausgangssperren und massiver Zerstörung von Häusern und anderen Gebäuden durch.
Wir wurden zu einem Ort geführt, an dem 2002 während der israelischen Militäroperationen „Defense Shield“ und „Determined Path“ viel an Leben und Besitz vernichtet wurde. Die Wände dort waren voller Graffiti und einigen Steingravierungen, die denen, die im Kampf um ihr Land starben, Ehre erweisen sollten. Geschichten von Verlust und Schmerz sind im Überfluss vorhanden bei solchen Besuchen, und sie lassen uns mit einem Gefühl der Entmutigung zurück. Nach einer Weile verließen wir die Stätte und gingen in Richtung der Neustadt von Nablus.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake