Ein Besuch in Bethlehem
Einige Orte scheinen immer ganz oben auf unseren „Besuchslisten“ zu landen. Ich glaube, dass unser tiefer Wunsch, sie zu besuchen, sich aus unserer Vertrautheit mit ihnen herleitet, denn normalerweise sind das jene Orte, von denen wir schon vor sehr langer Zeit gehört haben. Tatsächlich sind wir oft aufgewachsen mit Geschichten über diese Orte, die wir gehört oder gelesen haben. Wir sind damit aufgewachsen, sie uns vorzustellen, ihnen eine Form zu geben und sie zu gestalten mit jeder neuen Information oder Idee, die wir den biblischen Geschichten entnehmen, den Geschichten der Eroberung, den Geschichten der Propheten etc.
Bethlehem ist einer dieser Orte. Alleine der Name „Bethlehem“ klang für mich schon immer vertraut, denn ich habe ihn so oft gehört, als ich ein Kind war. Dieser Name tauchte in den Geschichten auf, die ich über Jesus Christus hörte. Es ist die Stadt, die als sein Geburtsort angesehen wird.
Als ich also erfuhr, dass ich nach Palästina reisen würde, kletterte Bethlehem sofort an die Spitze meiner „Besuchsliste“ und belegte den Platz gleich nach Jerusalem. Ja, der Reiz und die Anziehungskraft von Jerusalem ist unschlagbar, sodass es immer die allererste Position belegte. Doch Bethlehem, der Geburtsort Jesu, war gleichermaßen in der Lage, meine Vorstellungskraft zu verführen.
Als ich das Programm für das Jugendcamp zum ersten Mal las, war ich wirklich erfreut, den Namen Bethlehem auf der Liste zu sehen. Ein ganzer Tag war dafür vorgesehen. Offenbar konnten sie die Stadt der „Geburtskirche“ nicht auslassen.
Endlich kam der Tag, an dem wir Bethlehem besuchen würden. Wir hatten in unserer Unterkunft gefrühstückt und warteten nun auf den Bus.
Uns wurde gesagt, dass wir uns auf den Marktplätzen der Stadt ein paar Stunden frei bewegen könnten, um einzukaufen oder anderen Aktivitäten nachzugehen. Und so waren wir damit beschäftigt, Informationen darüber zu sammeln, auf welchem Markt wir welche Produkte bekommen könnten.
Wir waren in unsere Diskussionen vertieft, als einer unserer palästinensischen Freunde zu uns kam und uns informierte, dass unsere Abfahrt sich um einige Stunden verzögern könne, weil es in Bethlehem stark regnete. Es war sehr enttäuschend, das zu hören. Wir waren sicher, dass wir nun viele Orte in der Stadt, die wir eigentlich ansehen wollten, auslassen müssten. Ich besuchte Palästina im Dezember, es war also Winter, und da Bethlehem ein mediterranes Klima hat, sind milde und nasse Winter nicht allzu ungewöhnlich. Nach ein paar Stunden ging es endlich los.
Die Stadt wird sowohl von Juden als auch von Christen verehrt. Nach dem Alten Testament wird Bethlehem als die Stadt Davids angesehen, als der Ort, an dem er zum König der Israeliten gekrönt wurde. Außerdem befindet sich am nördlichen Stadtrand das Grab der Erzmutter Rachel, für jüdische Gläubige eine bedeutende heilige Stätte.
Bethlehems Begegung mit dem Islam fand nach der muslimischen Eroberung im Jahr 637 statt. Zu dieser Zeit waren die Bewohner der Stadt überwiegend Christen, heute jedoch ist die Bevölkerung vorwiegend muslimisch. Auch eine größere Zahl israelischer Siedler lebt in Bethlehem. Uns wurde gesagt, dass die Stadt von zwei Umgehungsstraßen umgeben sei, wo es viele jüdische Enklaven gäbe. Obwohl Bethlehem von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet wird, werden nahezu alle Ein- und Ausfahrten, die die Stadt mit dem übrigen Westjordanland verbinden, von der israelischen Militärverwaltung des Westjordanlandes kontrolliert.
Endlich kamen wir in Bethlehem an. Es regnete in Strömen. Ich sah aus dem Fenster des Busses und liebte den Anblick der vom Regen durchtränkten Stadt! Das Wetter würde das Herumgehen in der Stadt sicherlich erschweren und wir würden viele Dinge auslassen müssen, aber dagegen war leider nichts zu machen.
Der Gruppenleiter sagte uns, dass wir zuerst die Geburtskirche besuchen würden. Wir stiegen aus dem Bus und gingen ein Stück zu Fuß. Es war kalt draußen, wir froren im Regen, der von einem kalten Wind begleitet wurde, und wurden immer weiter durchnässt. Das Pflaster der Straßen war rutschig. Aber trotzdem war es ein Spaß!
Wir waren am Manger-Platz. In der Mitte des Platzes stand ein riesiger Weihnachtsbaum, der wunderschön geschmückt war. Mir wurde bewusst, dass es der Weihnachtsmonat war. Der Platz sah großartig aus! Ich erfuhr, dass alle Weihnachtsfeierlichkeiten auf diesem Platz stattfanden. Ich wäre gern eine Weile herumgegangen, aber der heftige Regen ließ es nicht zu.
Wir gingen hinüber zur Geburtskirche. Ich war fasziniert und aufgeregt angesichts der Tatsache, dass hier Jesus geboren worden war. Endlich stand ich da, in der Nähe dieses heiligen Ortes. Wir betraten die Kirche, mussten aber in der Nähe des Haupteingangs warten, weil noch zwei andere große Gruppen im Gebäude waren. Ein Fremdenführer begann, uns etwas über die Geschichte der Kirche zu erzählen.
Die Kirche wurde über einer Höhle errichtet, die die Heilige Krypta genannt wird. Der Glaube besagt, dass in dieser Höhle Jesus geboren wurde. In der Nähe befindet sich die Milchgrotte, von der es heißt, dass dort die Heilige Familie auf ihrer Flucht aus Ägypten Zuflucht suchte. Hinter der nächsten Tür ist eine Höhle, in der der Heilige Hieronymus dreißig Jahre verbrachte, um die Vulgata zu verfassen, die erste lateinische Abschrift des Neuen Testaments, die bis zur Reformation die dominierende Version der Bibel war. Der Bau der Kirche wurde im Jahr 327 durch Kaiser Konstantin den Großen und seine Mutter Helena in Auftrag gegeben.
Wir sahen, dass die Baustruktur und die Decke der Kirche restauriert wurden. Das Bauwerk wirkte massiv, und die Gemälde an den Wänden waren ein Zeugnis seines Alters und seines glorreichen Erbes. Der Kirchenbau machte einige Episoden von Zerstörung und Entweihung durch, die sowohl durch die Natur als auch durch Menschen verursacht wurden. Doch es gab auch immer wieder Bemühungen um ihre Rekonstruktion und Renovierung.
Die Kirche ist nicht nur eine Erinnerung an die Antike, sondern auch an die bitteren Auseinandersetzungen, die sie überstanden hat. Wir erfuhren, dass sie von griechisch-orthodoxen, römisch-katholischen, armenisch-apostolischen und syrisch-orthodoxen Geistlichen gemeinsam verwaltet wird. Unser Führer erzählte uns, dass alle vier christlichen Traditionen klösterliche Gemeinschaften an diesem Ort unterhalten, was zu häufigen Diskussionen und auch Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen kirchlichen Autoritäten führe.
Endlich waren wir an der Reihe, um die Höhle zu besuchen, in der Jesus geboren worden war. Der Eingang war so eng, dass immer nur eine Person hindurchgehen konnte. Langsam betraten wir die Höhle, einer nach dem anderen. Ich sah den Ort, an dem Jesus geboren worden war. Ein silberner Stern kennzeichnete die genaue Stelle seiner Geburt, darüber befand sich der Geburtsaltar. Ein eigenartiges Gefühl überwältigte mich.
Ich wollte beten. Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder die Möglichkeit dazu haben würde, diesen heiligen Ort zu besuchen. Doch war es dort nicht still, denn der enge Raum war voller Pilger. Endlich gelang es mir, einen ruhigen Fleck für ein Gebet zu finden. Ich schloss meine Augen, und gerade als ich zu beten begonnen hatte, hörte ich die Aufforderung, den heiligen Ort zu verlassen, damit die anderen Pilger, die draußen warteten, die Höhle betreten könnten. Ich wusste, dass ich gehen musste. So gerne ich mehr Zeit dort verbracht hätte, war ich doch glücklich darüber, dass ich die Geburtsstätte Jesu zumindest kurz besuchen konnte.
Ich ging aus der Grotte in den Hauptraum der Kirche.
Wir verließen langsam die Kirche und gingen hinaus auf den Manger-Platz. Es war bereits Abend. Der riesige Weihnachtsbaum mit der goldfarbenen Dekoration sah wunderbar aus. Neben dem Platz gibt es auch eine Moschee, die Omar-Moschee. Es ist die einzige Moschee der Stadt.
Es regnete noch immer. Unser Gruppenleiter informierte uns über eine Änderung unseres Plans: „Wegen des Regens bleiben wir nicht so lange wie geplant in Bethlehem und fahren früher zurück nach Jericho.“ Wir hatten immerhin noch die Möglichkeit, in der Nähe des Platzes herumzustreifen und etwas einzukaufen oder die Cafés und Restaurants zu besuchen.
Ich ging zu einigen Läden und kaufte ein paar Statuen aus Olivenholz und handgearbeitete religiöse Ornamente.
Nach einer oder zwei Stunden gingen wir wieder zu unseren Bussen. Wir verließen Bethlehem, ohne allzu viel davon gesehen zu haben, und waren überhaupt nicht in der Stadt herumgekommen. Doch ich habe mich entschlossen, zurückzukehren. Ich werde darauf warten!
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake