Ehe du über jemanden urteilst, gehe eine Meile in seinen Schuhen
Es gibt viele Arten, im Leben zu scheitern. Wir lassen unsere Mitmenschen fast schon mit Genugtuung gegen die Wand laufen, fühlen nur Distanz und Kälte anstatt eines Impulses, ihnen zu helfen – wenn wir uns nicht gar an ihrem Unglück weiden.
Nicht, dass die Generalsymbiose in (noch heute existierenden) steinzeitlich lebenden Dorfgemeinschaften das absolute Ideal darstellte, denn auch und gerade dort sind die Grenzen des tolerierten Verhaltens sehr eng gesteckt – aber diese Form von Gleichgültigkeit wäre dort undenkbar. Ist einer krank, dann ist es die Aufgabe des ganzen Dorfes, ihn gesund zu machen. Stürzt eine Hütte ein, dann reparieren sie alle zusammen. Die Anonymität der Stadt macht es freilich schwer, Hilfe zu leisten, denn einem völlig Fremden in persönlicher Hilfsbereitschaft Tür und Tor zu öffnen, ist ein unzumutbares Risiko (das die Bewohner unseres Steinzeitdorfes auch nicht unbedingt eingehen würden).
Das Konzept Scheitern
Nicht nur kosten zerbrochene Leben vollkommen unnötigerweise viel Geld, vermindern die Sicherheit und sind quälend für die Betroffenen – auch der Rest leidet ja darunter, die Angst vor einem vollkommenen Absturz am Rande des Bewusstseins ständig im Nacken sitzen zu haben. Wir gehen keine Risiken ein, aus Angst, ein Fehler könnte unser sorgfältig gestapeltes Kartenhaus unwiederbringlich zum Einsturz bringen.
Dennoch kann man, sogar wenn von außen kein Druck zum sofortigen Gelingen herrscht, durch innere Zerrissenheit gehindert sein. Keine Fehler machen zu dürfen, ist ein viel häufigeres Kinderschicksal, als man glauben würde – und wie man sich unschwer vorstellen kann, erstickt es Abenteuergeist und Selbstbewusstsein. Das Heranwachsen zu einem selbstbestimmten, zuversichtlichen Erwachsenen ist nur möglich, wenn man lernt, zu fallen und wieder aufzustehen – und zwar mit Humor und einer gewissen Leichtigkeit statt mit bleierner Schwere und strenger Erwartungshaltungen seitens der Erwachsenen.
Neurotische Versagensängste – wie der innere Kompass vieler Kinder auf Misserfolg eingestellt wird
Neben den unbeachteten Kindern gibt es auch jene, die buchstäblich schon als Säuglinge ständigem – nach außen hin meist geschickt verborgenem – psychologischem Terror ausgesetzt waren. Sie sind Opfer von Eltern mit schweren Persönlichkeitsstörungen, die ihre gesamte Umwelt mit grausamen und absurden Intrigen in Trab halten. Als psychische Prügelknaben und unentbehrliche Krücke der unberechenbaren Erwachsenen lernen sie früh, ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren, ihre Persönlichkeit vollkommen an das Wunschbild der Eltern anzugleichen und stets mit dem Schlimmsten zu rechnen. Im Erwachsenenleben sind diese Verhaltensweisen freilich Garant für fortgesetzten Kummer.
Auch Eltern, die schlichtweg selbst noch halbe Kinder (jedweden physischen Alters) sind, können ein sensibles Kind mit ihrem Egoismus und ihrer Bedürftigkeit in eine neurotische Hölle treiben, ohne je zu merken, wie hilflos, einsam und überfordert ihr Nachwuchs ist. Schließlich wurde ihnen selbst ja das Gleiche angetan, also erkennen sie darin kein Unrecht.
Ehe du über jemanden urteilst, gehe eine Meile in seinen Schuhen
Sei es Übergewicht oder Lernschwächen, eine eskalierende Trennung der Eltern oder besonders tragische Umstände wie sexueller Missbrauch, ein schwerer Unfall, Behinderung, Tod oder die schwere Erkrankung eines Familienmitglieds… Ob es Kindheitserlebnisse oder tiefe Tragödien im Erwachsenenleben waren, von denen sich jemand nicht erholen kann – was auch immer geschehen ist, niemand ist gerne der ewige Verlierer. Niemand „denkt einfach nur zu negativ“, oder „hat seinen Kummer selbst in sein Leben gerufen“, wie es aus der esoterisch angehauchten Ecke gerne tönt. Zumindest mit Sicherheit nicht absichtlich und willentlich.
Was tun?
Wahr ist, dass es aus jeder Situation (und jeder Denkfalle) einen Ausweg gäbe, wenn den hilflos vor ihren Lebensaufgaben Stehenden nur ein wenig Hilfe gewährt würde. Allein finden Menschen den Ausweg irgendwann nicht mehr, wenn in ihrer Vergangenheit und ihren Köpfen die Weichen wieder und wieder falsch gestellt wurden. Sie haben den Humor und die Kraft verloren, sich nach dem hundertsten Sturz noch einmal aufzurappeln und weiterzugehen … und sie warten darauf, dass jemand ihnen die Hand entgegenstreckt, um sie hochzuziehen.
Eine gut ausgestattete Institution für echte Neuanfänge zu schaffen, sollte daher eine unserer wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben (und eine Selbstverständlichkeit) sein – sie wäre sowohl volkswirtschaftlich als auch für das Sicherheitsgefühl jedes Einzelnen eine hervorragende Investition. Scheitern darf nicht Schicksal sein!
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Der Damenschuh | Patryk Kopaczynski | CC BY-SA 4.0 |