Die Sozialen Medien: emotionales Schlachtfeld oder historische Chance?

Dr. Daniele Ganser
Gesellschaft

Ihr erinnert euch? Am Montag, dem 26. September 2016, nutzte unser Idealism Prevails-Team Dr. Daniele Gansers Besuch in Wien, um mit dem Schweizer Historiker, Energie- und Friedensforscher ein Gespräch „von Mensch zu Mensch“ zu führen.

Im zweiten Teil unserer „Tuchfühlungs“-Serie will Mag. Christian Janisch von Dr. Ganser wissen, was er zur Verrohung der Sprache zu sagen hat, die sich offensichtlich aufgrund der Entwicklung der Sozialen Medien verschärft hat.

Christian Janisch:

In den Sozialen Medien findet eine Verrohung der Sprache statt, die man zum Beispiel in den Kommentaren zu gewissen Themen, zuletzt etwa der Bundespräsidentenwahl in Österreich, beobachten kann. Sehen Sie – aus der Sicht des Friedensforschers – eine Möglichkeit, dem zu begegnen, ohne gleichzeitig in die Überwachungsfalle zu geraten?

Daniele Ganser:

Wie man dem entkommt, weiß ich auch nicht. Allerdings finde ich es aus der Sicht der Friedensforschung spannend, dass die Sozialen Medien, also die internetbasierende Kommunikation, in den letzten zehn Jahren extrem zugenommen haben. Mich interessiert ja immer die historische Perspektive. Ich bin jetzt 44 und habe die Zeit ohne und die Zeit mit Internet erlebt. Das ist unser Vorteil gegenüber der jüngeren Generation – für die gab es das Internet schon immer.

Ich kann mich noch erinnern: Ich war 1996 als Student in Amsterdam. Da haben andere Studenten gesagt: „Daniele, kommst du auch auf’s Internet? Da gibt es einen speziellen Raum hier an der Uni in Amsterdam, da stehen 50 Computer in einer Linie und die sind mit einem Kabel mit dem Internet verbunden!“ Da habe ich gefragt: „Internet, was ist das?“ Das habe ich 1996 gesagt! [lacht] Und sie antworteten: „Wir wissen es auch nicht, aber es ist interessant!“

Und wenn man Student ist und es gibt etwas Neues, dann geht man hin. Es war allerdings eine totale Enttäuschung; die erste Webseite, die ich eingab, war „Boeing“, eine Rüstungs- und Flugzeugfirma, denn ich fand Flugzeuge immer toll. Vielleicht erinnert ihr euch auch noch, das war 1996, also vor 20 Jahren, das muss man sich vor Augen halten. Dann hat die Website geladen [mimt langsame Ladegeräusche: ssst – ssst – ssst], dann kam erst das Startbild. Und wenn dann ein Hyperlink gedrückt wurde, ging es nochmal so. Das habe ich fünfmal wiederholt. Nach zehn Minuten bin ich wieder gegangen. Meine erste Begegnung mit dem Internet war kurz. Das hat mir nicht gepasst.

Als Historiker sehe ich auch die Vorgeschichte: Das Internet existierte ja schon vorher, z.B. im Verteidigungsministerium. Doch für die Öffentlichkeit wurde es erst in den Neunzigerjahren mit den ersten benutzerfreundlichen Browsern zugänglich, etwa dem Netscape Navigator.

Wir können also vereinfacht sagen: Wir haben 20 Jahre lang Internet. Und jetzt vergleiche ich das und sage: Ok, wie lange haben wir denn den Buchdruck? 500 Jahre.

Was gab es vor dem Buchdruck? Kein Internet, nur handgeschriebene Bücher. Das heißt, vor 500 Jahren gab es genau hier, an der gleichen Stelle, keine Bücher bzw. nur ganz, ganz wenige – und die waren super wertvoll. Sie waren in Latein geschrieben, und kaum jemand konnte sie lesen. Dann kam der Buchdruck, da gab es aber zunächst nur ein Buch: die Bibel. Der Bestseller für alle! Aber auch die konnte kaum jemand lesen, denn die meisten waren Analphabeten.

Und dann weiter: Wann kam die Zeitung? Genau, wir haben seit 100 Jahren Zeitungen. Wann kommt das Fernsehen? 50 Jahre Fernsehen. Oder vielleicht 70 Jahre, je nach Land.

Dr. Ganser und Mag. Christoph Janisch

Und das im Vergleich zu: 20 Jahre Internet. Da ist eine absolute Revolution im Gange, und die Einheiten werden immer kürzer. Heute können wir alle hier lesen. Und alle haben Zugang zu Hochgeschwindigkeitsanschlüssen.

Gestern Abend im Hotel Hilton hier in Wien hatte ich die Wahl: Schaue ich mir da jetzt die Nachrichten an auf ARD? Einen Klick von meiner Nase gibt es 30 Kanäle im Fernsehen. Oder ich nehme mein Natel und bin mit einem Klick auf Youtube, da habe ich gerade einen Beitrag von KenFM, ein Interview mit Prof. Mausfeld. Also schaue ich mir das an.

Ich habe also eine Pluralität von Quellen, in die ich einsteigen kann, und das finde ich insgesamt einen Fortschritt. Es ist für die Friedensforschung ein Fortschritt. Wir haben die Möglichkeit, Dinge aufzunehmen, Dinge online zu stellen, ins Gespräch zu kommen – das hätte man sich früher nicht einmal erträumen können.

Wenn man früher ein Buch hätte drucken wollen, hätte man zuerst mit dem Klerus sprechen müssen. Da wäre man gefragt worden: „Ja, was wollen Sie denn drucken?“ Dann hätte man gesagt: „Wir sind Friedensforscher, wir sind gegen Ausbeutung, Krieg und Gewalt.“ „Gegen welche Kriege?“ Und man hätte geantwortet: „Gegen alle Kriege, ja, auch Ihre Kriege werden wir kritisieren.“ [lacht] Dann hätten die gesagt: „Geht nach Hause! Ihr könnt froh sein, wenn wir euch nicht einsperren.“

Heute müssen wir niemanden mehr fragen; wir gehen einfach online – innerhalb von Sekunden. Das ist der Vorteil. Der Nachteil ist natürlich, dass das Internet den Bewusstseinszustand reflektiert, in dem wir uns gerade befinden.Wenn wir also gerade in einem Zustand sind, in dem wir gerne jemanden beschimpfen wollen, dann passiert das auch. Wenn wir uns in einem Zustand befinden, in dem wir die Verantwortung für uns selber übernehmen, dann passiert eben dies.

Und ich denke, dass es einen gewissen Anteil von Leuten gibt, der sehr sauer ist. Diese Leute haben so viel Wut und unkanalisierte Emotionen, die sie dann im Internet ablassen – was sie sich in einem normalen Gespräch aber nicht erlauben würden. Sie haben ein Pseudonym, loggen sich ein und dreschen auf die anderen ein. Die dreschen aber zurück, denn sie haben dieselbe Problematik. Und das hat dann eine gewisse Dynamik.

Das ist aber nur ein emotionales Chaos und kein Erkenntnisgewinn. Und es ist auch kein Prozess für die Beteiligten, sie lassen einfach nur Dampf ab. Und ich denke, dass das ein Ausdruck der Sozialen Medien ist.

Es gibt aber noch einen anderen Ausdruck, und der ist viel positiver: Da wird differenziert. Da werden Stellungnahmen entgegengenommen. Die Leute lernen voneinander, und sie werten einander nicht ab. Das ist eigentlich der Punkt. Also ich kenne viele Leute, die lernen im Internet und sagen: „Ich finde es super, die Vorträge, die sind ja gratis. Ich habe hier einen Lehrer – auf Knopfdruck.“ Und zwar nicht nur Lehrer zur internationalen Politik. Ich habe einen Freund, der will Didgeridoo spielen, und dafür gibt es nicht so viele Lehrer. Im Internet hat er seinen Lieblingslehrer für das Didgeridoo aus Australien gefunden. Und dann gibt es da so einfache Youtube-Videokurse in zehn Schritten, man schaut sich das an und macht es nach. Das ist ja gratis.

Und da hoffe ich eigentlich, dass unter dem Strich der edukative Effekt überwiegen wird und das Internet nicht abtaucht und nur einen Sumpf darstellt, in dem man sich gegenseitig mit Tomaten bewirft.

Im dritten und letzten Teil konfrontiert unsere Idealism Prevails-Chefredakteurin Dr. Daniele Ganser mit dem Thema: „Frau und Gewalt“. Es bleibt spannend & edukativ!

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Dr. Daniele Ganser Dr. Daniele Ganser Foto: Bianca Traxler | Bearbeitung: Patryk Kopaczynski CC BY-SA 4.0
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