Anarchie – Die verlorene Würde der Untertanen

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Meinung

Seit es Staatsgebilde gibt, je nach Definition seit einigen tausend Jahren also, produziert das System einerseits riesige Überschüsse, andererseits Massenarmut, Unfreiheit und Ungerechtigkeit. Je stärker die Ausrichtung auf Eroberung, je militarisierter also die Gesellschaft, umso grausamer fällt dabei die Einstellung gegenüber Schwächeren aus.

Nicht nur nach außen hin wird expandiert und versklavt: Auch nach innen wird der Graben zwischen Bürgern und Rechtlosen umso tiefer und unüberbrückbarer, je berechtigter sich die privilegierte Gruppe fühlt, anderswo einfach zu nehmen, was auch immer ihnen gefällt. Wo Sklaverei denkmöglich ist, vergiftet sie den Umgang aller Menschen miteinander, lässt uns in Abstufungen der Macht über einander denken und erlaubt es uns, die unterste soziale Schicht ohne schlechtes Gewissen zu ignorieren und degradieren.

Das Ergebnis ist ein System, das Gewalt nach unten delegiert und Ressourcen nach oben leitet. Dieses Arrangement lässt den König über die Lebensumstände Tausender ihm Unbekannter entscheiden, was eine gänzlich andere Situation ist, als die oft als natürliches Vorbild gepriesene Hierarchie, wie wir sie aus dem Tierreich kennen.

Während sich auch in menschlichen Sippen und Horden stets besonders einflussreiche Individuen und Familien etablieren, sprechen diese den weniger wichtigen Stammesmitgliedern ihre Menschlichkeit weder ab, noch sehen sie sich als über dem Wohl der Gruppe stehend.

Nun macht das aus Entmenschlichung resultierende Leid, insbesondere wenn es über Generationen weitergetragen wird, die Masse der Unterdrückten nicht weiser, empathischer oder fairer. Es führt vielmehr zu sklavischer Ergebenheit nach oben und perfide ausgelebtem Hass und Neid in jede andere Richtung, sowie einem Gefühl allgemeiner Ohnmacht.

Zusätzlich zum kulturellen Druck erlernten Verhaltens ergibt sich obendrein eine negative Selektion bis hin zu unserem Erbgut: Wer seit der Sesshaftwerdung und dem darauffolgenden Entstehen von Herrschaftsstrukturen zu viel nachdachte, kritisierte, gar aufmuckte oder zur solidarischen Aktion aufrief, überlebte nicht lange.

Mit stetig besserer Bewaffnung konnte sich die herrschende Schicht immer maßlosere Forderungen herausnehmen, in dem Wissen, dass ihre gepanzerten Berufssoldaten Aufstände buchstäblich niedermähen würden. Übrig blieben unweigerlich die Duldsamen, und das Wissen, dass man seinen Kindern diese Einstellung besser ebenfalls von klein auf einprügelt. (Was nicht nur Ärger mit den Autoritäten verhindert, sondern einem zumindest vorübergehend ein klein wenig Machtausübung über jemand noch Schwächeren erlaubt.)

Gehorsam, Passivität und Misstrauen gegenüber Gleichrangigen sitzen uns offensichtlich, ebenso wie von Generation zu Generation weitergegebene Traumatisierungen, buchstäblich in den Knochen.

Genau diese Eigenschaften sind freilich die unüberwindlichsten Hürden für eine herrscherlos funktionierende Gesellschaft. In klassischer Identifikation mit dem Unterdrücker wurde der Gedanke in den meisten Köpfen gar nicht erst zugelassen: Egal, wie despotisch Fürsten und Könige sich verhalten mochten – ihr vermeintliches Geburtsrecht wurde von ihren Untergebenen akzeptiert und in vorauseilendem Gehorsam sogar verteidigt.

Damals wie heute gilt, dass Zusammenhalt, Mitgefühl und Menschlichkeit (Werte, die für jedes tyrannische Regime eine echte Gefahr darstellen) umso dramatischer zerbröseln, je weniger den Menschen für ihr eigenes Überleben übrig bleibt. So wird das Herrschertum opportuner Weise zu seiner eigenen Rechtfertigung und kann sich damit brüsten, die einzig mögliche Lösung für ein Unheil zu bieten, das es in Wahrheit selbst hervorruft – denn wie könnte man die von ewiger Angst vor Mangel zu Gier und Rücksichtslosigkeit getriebenen Menschen schließlich sich selbst überlassen, wie könnten sie, die Ohnmächtigen, jemals mit Verantwortung umgehen?

Philosophen wie Thomas Hobbes taten ihr Übriges, um die vollkommen verzerrte Psyche der Verarmten und Entwürdigten als den menschlichen Naturzustand darzustellen und den Kampf Jeder gegen Jeden zu Gottes Willen zu verbrämen. „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“: So glauben wir, allen anders lautenden Erkenntnissen der Verhaltens- und Hirnforschung zum Trotz, bis heute.

Dass wir, insbesondere in den Städten, unter Bedingungen zusammengepfercht sind, für die uns die Evolution nie vorbereitet hat, dass wir ständig unter hohem psychischem Aufwand die Abwesenheit einiger menschlicher Grundbedürfnisse kompensieren müssen und generell gesprochen sozusagen nicht artgerecht gehalten werden, wird dabei wohlweislich nicht in die Überlegung einbezogen. Unsere neurotischsten Verhaltensweisen werden zu menschlichem Standardverhalten erklärt.

Hier sprechen Soziologie, Neurologie und Psychologie jedoch eine klare Sprache: Altruismus, Großzügigkeit und Fairness erwachen in unserer Entwicklung mit der Fähigkeit zur Empathie, sind jedoch umso seltener anzutreffen, je prekärer die soziale Lage. Menschen können nur so wohlmeinend sein wie das Umfeld, in dem sie aufwachsen und leben.

Die wenigsten von uns leben so, dass sie eine sinnstiftende Tätigkeit, Rückzugsmöglichkeiten, entspannte soziale Beziehungen, ausreichende Bewegung im Freien und die Abwesenheit von ständigem Existenzdruck genießen können – was aber die, leider vollkommen unterschätzten, Grundvoraussetzungen für ein langfristig gesundes Innenleben sind.

Hektik und verbissene Leistungsorientierung sind so allgegenwärtig, dass sie sich normal und unvermeidbar anfühlen.

Wir flüchten uns in diverse Süchte und Scheinwelten, müssen aber feststellen, dass sich das Leben unbefriedigend, unerfüllend und sogar belastend gestaltet – nicht zufällig boomen ironischerweise stark kommerzialisierte Angebote zur Selbstfindung. Aber die Antwort ist weder ein schneller Yogakurs noch Rückzug in eine einsame Waldhütte, sondern ein dringend notwendiger Wandel in unseren Werten, unseren Prioritäten und unserer Wertschätzung füreinander und den Gegebenheiten unserer Natur gegenüber.

Auch wenn Anarchie das – sehr lose gesteckte – Grundthema dieser Miniserie ist; viel, viel wichtiger als der Streit um die ideale theoretische Gesellschaftsform sind Schritte, die wir jetzt und hier unternehmen könnten, damit es uns allen besser geht, so dass wir das enorme menschliche Potenzial zu Kreativität und Empathie endlich entfalten können, anstatt es schon in unseren Kindern abzutöten.

In welche Richtung sich die Menschheit danach entwickelt und welche all unseren Ideen vielleicht weit überlegene Form des Zusammenlebens unsere Art vielleicht mit etwas Ruhe und Liebe irgendwann erschafft, ist ein tausendmal interessanteres Abenteuer als der endlose Kreislauf von Aufbau, Konsum und Zerstörung, den wir bis jetzt als normal betrachtet haben.

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