Die Selbstgerechten und die linke Identitätspolitik
Unter der Leitung von Mag. Maximilian Eberl lud das BSA Döbling zu diesem digitalen Gesprächsabend über Identitätspolitik und die immer stärker werdende (berechtigte wie unberechtigte) Kritik daran.
Während rechte Identitätspolitik kulturelle Identität als ethnische Homogenität missversteht und Abgrenzung und Ausgrenzung betreibt, will die linke Variante Anerkennung und Gleichberechtigung von Minderheiten erreichen, meint Wolfgang Thierse, ehemaliger Bundestagspräsident. Er ortet allerdings falsche Radikalisierung und verfehlte Feindbilder – und dass klassisch linke Themen wie soziale Gerechtigkeit zunehmend verlorengehen.
Für die ehemalige Nationalratsabgeordnete Mag. Muna Duzdar wird dieser Begriff vor allem verwendet, wenn es um Kritik an der Sozialdemokratie geht, die – so der Vorwurf – zu Gunsten von Außenseiterthemen und Minderheiten auf ihr Wählerklientel vergessen würde. Duzdar ortet einen rechten Spin: der Gegensatz zwischen den Sorgen der Arbeiterschaft und jenen der Minderheiten sei künstlich konstruiert. Es gab immer schon unterschiedliche Bewegungen innerhalb der Linken, so sei es auch in diesem Fall.
Auch für die Journalistin Lea Susemichel sind Identitätspolitik und soziale Gerechtigkeit keine Gegensätze. In den letzten Jahrzehnten haben sich emanzipatorische Kräfte nie über diesen Begriff definiert: Entwicklungen, die übers Ziel hinausschießen, seien natürlich zu kritisieren und werden auch kritisiert. Dennoch wird der Begriff mittlerweile vor allem von rechter Seite für alle, auch berechtigte emanzipatorische Bewegungen abwertend eingesetzt. Erfolgreiche Errungenschaften, wie die Gleichstellung Homosexueller oder der Kampf gegen den Rassismus sollen damit diskreditiert werden.
Im Buch Identitätspolitik – Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, das der Soziologe Dr. Jens Kastner u.a. mit Lea Susemichel herausgegeben hat, werden die Errungenschaften der Identitätspolitik hervorgehoben. Davon ausgehend werden vorhandene Übertreibungen und Auswüchse kritisiert. Grundsätzlich führe linke Identitätspolitik aber zu mehr Demokratie, was auch historisch zu belegen ist.
Wir leben unumkehrbar in einer pluralistischen Gesellschaft, mit all ihren potenziellen Konflikten, meint Thierse. Wenn man diese Veränderung – wie er selbst – bejaht, muss man sich die Frage stellen, wie man in dieser Diversität friedlich zusammenleben kann: was verbindet und bei all unserer Verschiedenheit als Gesellschaft? Deshalb bedarf neben vieler Identitätspolitiken auch gesellschaftliche Strömungen, die sich um das Verbindende kümmern. Er selbst habe nach der Veröffentlichung eines Essays erlebt, wieviel Hass und Verachtung manche Vertreter linker Identitätspolitik ihm entgegenbrachten – obwohl er nur vor Übertreibungen warnte. Gleichzeitig erlebte er auch sehr viel Zustimmung aus der Bevölkerung. Was ihn dabei irritierte. war, dass ihm viele zu seinem Mut zur Veröffentlichung gratulierten. Offenbar trauten sich viele Menschen in diesem aufgeheizten Kulturkampf nicht mehr, ihre Meinung zu sagen – aus Angst vor oft zu beobachtenden, die eigene Existenz gefährdenden Repressalien. Diese Form linker Identitätspolitik ist ein für den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährlicher Irrweg, so Thierse. Gegen dieses Klima gilt es, sich auch als Linker zur Wehr zu setzen: Alter, Hautfarbe und Geschlecht dürfen nicht automatisch zu einer Schuldvermutung führen (wie es früher bei den Nazis der Fall war).
Rechte Kampfbegriffe und dadurch erzeugte linke Spaltung, notwendige Aushandlungsprozesse von Begriffen und gesellschaftlichem Zusammenleben, Bekämpfung von Vorurteilen in den eigenen Reihen und die Auseinandersetzungen rund um die Cancel Culture sind weitere Inhalte dieser Diskussionsrunde, in der auch Publikumsfragen eingebunden werden.
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Die Selbstgerechten und die linke Identitaetspolitik | Wolfgang Müller | CC BY SA 4.0 |