Die Sehnsucht nach dem starken Mann
Laut einer im Frühjahr 2017 durchgeführten Studie können sich 43 Prozent der Österreicher einen starken Mann an der Spitze des Staates, der sich – so 23 der 43 Prozent – nicht um die Ansicht des Parlaments kümmern solle, vorstellen. Unter Günther Ogris, Geschäftsführer des SORA-Instituts, wurde schon 2007 eine umfassende Studie in vier Ländern durchgeführt, die das Demokratiebewusstsein in Österreich, Ungarn, Tschechien und Polen verglich. Die aktuelle Studie zeigt gegenläufige Trends: während die Opferthese (Österreich sei Hitlers erstes Opfer gewesen) an Zustimmung verliert, ist das Demokratiebewusstsein rasant gefallen: die Zufriedenheit mit der Demokratie ist seit 2007 um 12 Prozent gesunken, das politische Ohnmachtsgefühl um neun Prozent gestiegen.
Das Festhalten an der These, der Nationalsozialismus hätte auch gute Seiten gehabt, sei in der Bevölkerung überraschend weit verbreitet und sei weder eine reine Generations-, noch eine rein Bildungsfrage, so Universitätsprofessor Oliver Rathkolb. Das Beispiel des Wahlkampfes zu den ÖH-Wahlen 2017 zeige dies deutlich. Eine Onlineumfrage unter Studierende ergab, dass es in den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften einen viel stärkeren Trend zur Verharmlosung der Geschichte gibt, als in anderen Studienrichtungen. Das Thema Nationalsozialismus müsse – ebenso wie das Spannungsverhältnis Demokratie und Autoritarismus – in jeder Generation neu diskutiert und reflektiert werden. Die Zunahme an Personen, die sich zum Nationalsozialismus weder positiv noch negativ artikulieren wollen, sei die große Herausforderung für die Zukunft. Denn diese wahl-apathischen Menschen seien für Populisten sehr leicht abholbar.
Die 43 Prozent der Österreicher, die sich einen starken Mann wünschen, seien Ausdruck des Wunsches, dass das Land endlich wieder regiert werde, meint der Journalist Hans Rauscher. Der selbstverständliche Antisemitismus, den man vor und während der Ära Waldheim stark spürte, sei heute nicht mehr so stark vertreten. Was an der aktuellen Studie erschreckend sei, sei das Nicht-Wissen vieler. In der Studie seien fast nur Österreicher ohne Migrationshintergrund befragt worden, bei Migranten und Flüchtlingen sei das Demokratiebewusstsein wahrscheinlich noch weniger ausgeprägt. Autoritäre Tendenzen, die durch die Krawallmedien befeuert werden, seien im Anwachsen – aber bisher nur deshalb, weil die Leute wollen, das sich politisch endlich wieder etwas bewegt.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung liege – wenn man etwas tiefer blickt – uA an der Landflucht der Jugend: da man auf dem Land kaum Aufstiegschancen in die Mittelschicht hat, drängen viele (vor allem Frauen) in die Städte, um dort hochwertigere Ausbildungen zu erreichen. Hinzu kommt die „Landflucht“ der Zuwanderer (aus deren Land nach Österreich), die auch in den Städten leben wollen. Diese Kombination sei einer der Gründe für die Einstellung der Österreicher zur Migration, meint Günther Ogris. In einer ORF-Umfrage erwarten 55 Prozent der Jugendlichen, dass es ihren Kindern einmal schlechter gehen werde. Das abnehmende Vertrauen in die Zukunft führe vor allem im ländlichen Bereich zu einer Renationalisierung. Die Hauptursache für die spürbare Unzufriedenheit sei, dass anderswo auf der Welt das Entstehen von Mittelschichten festzustellen ist, während man in Europa jahrzehntelange Reallohnverluste zu verschmerzen hat. Unter der Fehlentwicklung im Weltwirtschaftssystem leide am Ende die Demokratie.
Verwunderung löst bei Oliver Rathkolb aus, dass nach der alle fünf Jahre durchgeführten Shell-Studie die deutschen Jugendlichen wesentlich optimistischer in die Zukunft blicken, als unsere jungen Landsleute. Da die Ausgangssituation in beiden Ländern in etwa gleich ist (Wirtschaftsentwicklung, Migration etc), fragt man sich, was diese teils irrationalen Ängste hierzulande auslöst. Rathkolb führt diese auf die seit dem Beitritt Österreichs zur EU konstant negativen Meldungen in den Medien und auf die Meinungsäußerungen gewisser Politiker zurück. Österreichs Gesellschaft habe historisch betrachtet immer schon einen Wunsch nach einem starken Mann gehegt. Rathkolb sieht Ralf Dahrendorfs Aussage von 1992 immer noch als aktuell an: sollte es Europa nicht gelingen, das soziale Netz, welches nach 1945 aufgebaut wurde, zwar mit Reformen aber dennoch weiterzuführen, dann stehe Europa ein autoritäres Zeitalter bevor.
Hans Rauscher stellt fest, dass selbst erfahrene Journalisten und Politiker große Entwicklungen oft zu spät erkennen, sie dann auch zu spät thematisieren – und wenn sie dies dann endlich tun sagen ihnen die Bürger: wir sind schon viel weiter als ihr. Stattdessen beschäftigen sich die Journalisten mit „Politikpolitik“ (d.h. mit unwesentlichen Details, statt mit den großen Fragen) und Nabelschau. Ähnliche Tendenzen stellt Ogris in der Forschung fest. Der große soziale Aufstieg der Zuwanderer (etwa 200.000 seit der Ostöffnung aus Mittel- und Osteuropa) werde in den Diskussionen in Politik und Gesellschaft nicht erwähnt. Auch die Tatsache, dass man den österreichischen Pensionisten 15 Prozent weniger auszahlen könnte, gäbe es die Einzahlung von 650000 Migranten ins österreichische Sozialsystem nicht, wird ignoriert. Es gibt leider auch keinen Politiker, der diese positiven Entwicklungen entsprechend konnotiert, so Rauscher.
Im Anschluss beantworten die Diskutanten viele spannende Fragen aus der Publikumsrunde.
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Titelbild-Günther Ogris | Idealism Prevails | CC BY-SA 4.0 | |
Videobild-Diskussionsteilnehmer | Idealism Prevails | CC BY-SA 4.0 |