Die richtigen Fragen

1946-Eye
Meinung

Im vorigen Artikel haben wir einen Blick auf die Fehlerhaftigkeit unserer Wahrnehmung am Beispiel des Sehapparates geworfen – heute befassen wir uns mit der Beurteilung des Wahrgenommenen.

Zunächst muss man sich ein wichtiges Prinzip bewusst machen: Es gibt nur eine Realität.

Zwar bedeutet dieselbe Tatsache nicht für jeden das Gleiche, aber die Realität hat sehr wohl eine bestimmte Gestalt.

Dinge existieren und Abläufe geschehen – und zwar nicht in mehreren Versionen zugleich wie in der Quantenwelt, sondern einfach und eindeutig.

Diese Wahrheit ist oft genug so komplex und vielschichtig, dass man durch Auswahl verschiedener Aspekte zu sehr verschiedenen Versionen einer Geschichte kommt.

Genau hier liegt auch schon ein wichtiger Schlüssel, um den ewigen Kampf um die Wahrheit besser zu verstehen: Jede Schilderung und Aufarbeitung von Geschehenem, ebenso wie jedes wissenschaftliche Modell, stellt immer eine Vereinfachung dar – überspitzt gesagt, müsste eine lückenlose Nacherzählung die Bahn jedes Atoms beschreiben, jedes Rascheln im Hintergrund und obendrein die Vorgeschichte sämtlicher Agierenden, ganz zu schweigen von deren Gedanken, Motivationen und Plänen, die uns ohnehin verschlossen bleiben. Eine Auswahl nach Relevanz muss also getroffen werden. Das kann auch mit den besten Absichten nicht perfekt gelingen – umso einfacher ist es aber, mit diesem Prinzip Schindluder zu treiben und, ohne direkt zu lügen, doch Unwahrheiten und Halbwahrheiten zu verbreiten.

Noch einmal: Es gibt nur eine Wahrheit, nur einen tatsächlichen Ablauf von Geschehnissen, egal wie komplex. Wenn einander also zwei Behauptungen widersprechen (und kein Missverständnis vorliegt), muss mindestens eine davon entweder ein Irrtum, eine Halbwahrheit oder eine bewusste Lüge sein.

Im täglichen Miteinander geht man vernünftigerweise Kompromisse ein, weil Wahrnehmung und Gedächtnis bei allen Beteiligten einfach nicht zuverlässig sind. Anders sieht die Sache allerdings aus, wenn wir unser Weltbild möglichst realitätsnah gestalten wollen. Hier ist Bequemlichkeit wirklich fehl am Platz, und keine Information, inklusive (und im Besonderen!) jene, die man von klein auf eingetrichtert bekommen hat, sollte unhinterfragt einfach geglaubt werden.

Auch wenn kein böser Wille vorliegt, kann sich ja trotzdem eine Fehlinformation einschleichen, auf deren Basis wir womöglich ein Leben lang Entscheidungen treffen, die nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen.

Bei der Beurteilung neuer Informationen sind Fragen wie die folgenden sinnvoll:

Kann eine fehlerhafte Beobachtung vorliegen?

Ein historisches Beispiel hierfür: Bei einer Verbrennung ist, entgegen unserer alltäglichen Erfahrung, am Ende mehr da als ursprünglich, weil Sauerstoff sich mit dem verbrannten Material verbunden hat. Die zurückbleibende Asche ist nur deshalb leichter als das Ausgangmaterial, weil der Rauch (der keineswegs gewichtslos ist) fehlt. Jahrhundertelang glaubten Gelehrte aber aufgrund dieses Beobachtungsfehlers, Verbrennung entziehe dem Stoff etwas. Wer dazu Details wissen möchte, kann die Phlogiston-Theorie googeln.

Wird von den richtigen Voraussetzungen ausgegangen, stimmen die Vorbedingungen?

Wenn man beispielweise die Erde als bewegungslosen Mittelpunkt des Universums annimmt, müssten sich die Sterne in extrem komplizierten, teils rückläufigen Bahnen bewegen. Wenn man die Gesetze der Aerodynamik nicht kennt, müsste man davon ausgehen, dass Flugzeuge nie und nimmer vom Boden hochkommen. Wenn man andererseits nur Aerodynamik, nicht aber elektrostatische Kräfte in Betracht zieht, muss man annehmen, dass Hummeln flugunfähig sind.

Widerspricht es der etablierten Wissenschaft? Wenn ja, kann die gängige Ansicht falsch oder unvollständig sein?

Dazu muss man bemerken, dass die Wissenschaft alles andere als unfehlbar ist und dass ihre wohldurchdachten Prinzipien immer wieder durchbrochen werden – weil sie nun einmal von Menschen betrieben wird, die teils käuflich, teils eitel und manchmal einfach betriebsblind sind.

Immer wieder kann man beobachten, dass Wissenschaftler den momentanen Stand religiös als das einzig Wahre und Mögliche verteidigen – eine sehr törichte und zudem unwissenschaftliche Einstellung. Aber trotz dieser Einschränkung: Formeln, die tausendfach angewendet werden, Prinzipien, die ständig nachvollzogen und von jedem neuen Studenten überprüft werden, sind mit großer (aber nie 100%iger) Wahrscheinlichkeit richtig. Theorien, die täglich mit neuen Funden belegt werden, ebenso.

Hat der Verfasser sich eingehend mit der Materie befasst und wirkt sattelfest, hat er eine breite Auswahl von Informationsquellen berücksichtigt?

Wer etwas nicht gut erklären kann, hat es oft selbst nicht vollständig verstanden. Wenn der Autor strukturiert und anschaulich Wissen vermittelt und viele sinnvolle Querverbindungen macht, von denen man sich nicht überfordert, sondern angeregt fühlt, läuft es richtig. Ausnahme ist hier Fachliteratur, die von Spezialisten für Spezialisten verfasst ist – deren Qualität können nur Letztere beurteilen.

Wie gut ist die Recherche nachvollziehbar, beruft sich der Autor auf verlässliche Quellen, sind alle Links weiterverfolgbar?

Wenn man beim Folgen von Verlinkungen auf offensichtlichen Propagandaseiten landet (die mit Hilfe emotional berührender Bilder oder reißerischer Behauptungen starke Gefühle hervorrufen und somit die Logik in unserem inneren Monolog umschiffen), ist Skepsis angebracht.

Werden widersprechende Ansichten erwähnt

– oder einfach ignoriert? Werden sie argumentativ entkräftet oder auf der Gefühlsebene angegriffen? Was nicht dazu passt, einfach unter den Teppich zu kehren, nur damit eine Theorie nicht zu wackeln beginnt, ist schlechter Stil. Es durch psychologische Tricks zu diskreditieren, ebenso.

Will man Wahrheit verbreiten und zum Denken anregen, oder andere nur unbedingt von etwas überzeugen, egal ob es stimmt?

Basiert die Theorie selbst eher auf Gefühl und Glauben als auf Fakten und Logik?

Die kreationistische Erklärung der Welt beispielsweise baut auf dem festen Glauben auf, dass die Bibel wörtlich zu nehmen sei und die Erde in ihrer aktuellen Form erschaffen wurde. Das perfekt zusammenpassende Puzzle von geologischen Schichten, die Fossilien und Knochen, die unter unseren Füßen im Sediment liegen, können somit also nur ein Trick sein, um uns auf die falsche Spur zu locken. Egal, ob wir nach dieser Logik den Zauberstab nun dem Erschaffer selbst oder dem Teufel in die Hand legen wollen … wenn die Welt dermaßen willkürlich vom Übernatürlichen gelenkt wird, hat die Suche nach Wahrheit generell keinen Sinn – und alles wird beliebig.

Ist das Behauptete ohne gedankliche Akrobatik in sich schlüssig oder müssen sehr viele unwahrscheinliche Zufälle herangezogen werden?

Hier liegt zum Beispiel eine Schwachstelle (kein Gegenargument!) in der gängigen Evolutionstheorie, die Mutationen ausschließlich dem Zufall zuschreibt und die Selektion als nachträglichen Regulator sieht. Einige der allerfrühesten Entwicklungen haben sich, wie man inzwischen errechnen kann, zu schnell und zielgerichtet zugetragen, um wirklich wahllos ausgewürfelt zu sein. Somit kommt in Frage, dass Lebenskeime von anderswo (Meteoriten) eingeschleppt wurden, oder dass der Wissenschaft ein Prinzip oder Naturgesetz (oder gar eine Beseeltheit der Welt) entgangen ist, welche/s die Entstehung von Leben begünstigt.

Auch die verworfenen Theorien von Darwins Kollegen Lamarck werden wieder interessant. Er meinte, häufiger Gebrauch oder die Notwendigkeit einer Fähigkeit verstärke diese in den Genen. Und tatsächlich hat sich herausgestellt, dass bei Pflanzen und Bakterien bestimmte Gensequenzen nach Bedarf nicht nur aktiviert, sondern sogar neu entwickelt werden können. Die Mechanismen sind also um einiges komplizierter als gedacht und in ihrer Funktion derzeit noch weitgehend ungeklärt.

Passt es zu anderen Beobachtungen?

Ein riesiges Gebäude von stimmiger Forschung zu einem Thema – etwa in der Geologie, Biologie oder Astronomie, mit der sich ganze Heerscharen von Menschen professionell und als Hobby beschäftigen, kann man nicht einfach in ihrer Gesamtheit als Unfug abtun, nur weil eine einzelne Beobachtung in scheinbarem Widerspruch dazu steht. Allerdings muss man auch sagen:

So lückenlos, wie die Wissenschaft gerne tut, ist keine ihrer Disziplinen geklärt. Innerhalb jeder davon gibt es große und kleine Puzzleteile, die in sich selbst schlüssig und praktisch unbestreitbar sind, und dazwischen Zonen der Unsicherheit.

Erklärt eine neue Beobachtung ein solches fehlendes Stück und fügt sich elegant ein, ist das ein gutes Indiz dafür, dass sie stimmen könnte – allerdings noch kein Beweis. Widerspricht es hingegen allem bisher Herausgefundenen, so ist es entweder eine revolutionäre Entdeckung, die eine völlig neue Erklärung der Welt verlangt, oder – wesentlich wahrscheinlicher – einfach nicht korrekt beobachtet oder gedeutet.

Abschließend ist dazu noch zu sagen, dass keine Quelle jemals zu 100% vertrauenswürdig ist, aber auch keine Information nur aufgrund ihrer obskuren Herkunft gleich automatisch vollkommen ausgeschlossen werden kann. Aufnehmen – überprüfen – eigene Gedanken dazu machen: Das ist der einzige verlässliche Weg, um Manipulation zu entgehen!

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