Die Realität einer offenen Stadt: Jerusalem
Als ich meinen Koffer für meinen Flug nach Palästina packte, war mir auf irgendeine Art klar, dass diese Reise eine Mischung aus freudvollen Momenten und herzzerreißenden Erlebnissen sein würde. Ich wusste, dass ich einige besondere Momente und Gefühle aus Palästina mit nach Hause nehmen würde. Gefühle, die eine besondere Verbundenheit mit den Palästinensern aufbauen würden. Gefühle, die so außergewöhnlich sind, dass sie stets Tränen in meine Augen bringen würden. Ich wusste, dass diese Momente und Gefühle für immer Spuren in meiner Seele hinterlassen würden.
Und so war ich etwas ängstlich. Nicht, weil ich in eine der konfliktgeladensten Regionen der Erde reiste, sondern weil ich fürchtete, dass der Schmerz und das Leiden der Menschen dort mein Gewissen ernsthaft erschüttern und mein Herz mit Gefühlen von Schuld und Scham füllen könnten.
Die Medienberichte über die Menschenrechtsverletzungen, die Unterdrückung, die Demütigung, das nicht endende Leid, die ich gelesen und gesehen habe, erweckten in mir Gefühle der Sympathie und vielleicht auch des Mitgefühls für die Unterdrückten. Man fühlt, dass man tun sollte, was immer man kann, um den Leidenden zu helfen. Doch solche Informationen aus den Medien oder aus Büchern stacheln das Gewissen längst nicht in diesem Ausmaß an wie die persönliche Begegnung mit solchen Momenten von Demütigung und Unterdrückung in der Realität. Wenn wir das Leid direkt vor uns sehen, wenn wir solche Erfahrungen von Schmerz selbst erleben, können wir unsere Augen nicht länger verschließen und glauben, wir seien dafür nicht verantwortlich und das sei nicht unser Problem.
Am meisten war ich wegen unseres Besuches in Jerusalem aufgeregt. Die Stadt der Antike, die Stadt, die von Juden, Christen und Muslimen gleichermaßen verehrt wird. Ich hatte viel gelesen über ihre historische Bedeutung und ihren Glanz. Doch war ich mir auch der politischen Konflikte bewusst, in die Jerusalem verwickelt ist. Der Tatsache, dass sowohl Palästinenser als auch Israelis diese Stadt als ihre Hauptstadt betrachten. Ich wusste sehr wohl, dass Palästinenser nur mit einer Genehmigung der israelischen Regierung nach Jerusalem reisen dürfen. Und dass diese Genehmigungen nur selten erteilt und fast immer verweigert werden. Mir war klar, dass – obwohl Jerusalem als die Hauptstadt betrachtet wird – die von dort stammenden Menschen ohne eine Genehmigung der israelischen Regierung ausgesperrt bleiben.
Ich wachte früh am Morgen auf und machte mich bereit für den Besuch Jerusalems. Wir wurden gebeten, Kopftücher mitzunehmen, sodass wir unser Haar bedecken könnten beim Besuch der al-Aqsa-Moschee. Ich borgte mir eins von einer palästinensischen Freundin. Ich sah sie an und bemerkte, dass ihre Augen voller Tränen waren. Sie lächelte mich an und sagte: „Du hast großes Glück, dass du die heilige Stadt besuchen darfst.“
Ich verließ mein Zimmer, um zum Speisesaal zu gehen, in dem das Frühstück serviert wurde. Ich bemerkte bald, dass noch weitere palästinensische Mädchen ihre Kopftücher den anderen Teilnehmerinnen des Jugendcamps gaben, die nach Jerusalem fahren würden. Tatsächlich würden an diesem Tag viele nichtpalästinensische Mädchen Hijabs tragen, die sie sich von den Palästinenserinnen geliehen hatten.
Für die Mädchen, die weder Palästinenserinnen noch überhaupt Musliminnen waren, war das Tragen der Hijabs während des Besuches in Jerusalem eine Geste der Solidarität mit den Palästinensern, denen das Betreten ihrer eigenen Hauptstadt verweigert wurde. Doch hatte es auch eine wichtige Bedeutung für die Palästinenserinnen, die anderen Mädchen mit ihren Hijabs Jerusalem besuchen zu lassen. Die Geste der Solidarität war leicht erkennbar. Doch dauerte es eine Weile, bis ich das Motiv der Palästinenserinnen, die uns ihre Kopftücher liehen, vollständig verstehen und anerkennen konnte.
Die palästinensischen Teilnehmer, die nicht mit uns nach Jerusalem kommen konnten, standen niedergeschlagen neben uns im Foyer, wo wir uns normalerweise versammelten, bevor wir die Busse bestiegen. Heute trugen sie Pyjamas und T-Shirts, während die anderen, die nach Jerusalem fahren würden, angemessen gekleidet waren. Es fühlte sich irgendwie anders an, sie so gekleidet zu sehen. Ich kam mir wirklich seltsam vor. Es fühlte sich nicht gut für uns an, sie dort im Camp zurückzulassen. Es war nicht richtig, dass die Palästinenser ihre eigene Hauptstadt nicht besuchen konnten. Aber wir konnten nichts dagegen tun.
Sie waren aufgewachsen mit Geschichten über den Glanz und die Heiligkeit dieser Moschee, doch konnten sie niemals dort beten. Sie hatten keine Ahnung, wann sie eine Möglichkeit bekommen würden, ihre heilige Stadt zu besuchen, die nur ein paar Kilometer von Jericho entfernt ist. Und sie wussten, dass ihre Chancen sehr schlecht waren.
So müssen sie also warten, bis sie alt sind, um eine Moschee zu besuchen, die nur ein paar Kilometer von ihren Städten entfernt liegt. Das ist die Realität Jerusalems, das von sich behauptet, eine offene Stadt zu sein. Doch sie ist geschlossen für ihre eigenen Einheimischen.
Da sie Jerusalem und die al-Aqsa-Moschee wegen der israelischen Restriktionen in naher Zukunft nicht besuchen konnten, entschieden sie sich, jenen ihre Kopftücher zu geben, die die Möglichkeit dazu hatten. Auf diese Art würde zumindest ein kleiner Gegenstand aus ihrem Besitz in die heilige Moschee gelangen. So erhofften und erwarteten sie, die spirituelle Energie, die die Moschee ausstrahlt, spüren zu können. Obwohl dies niemals ihren sehnlichen Wunsch, ihren Fuß in die heilige Stadt ihrer Vorfahren zu setzen, befriedigen könnte, würde es fürs Erste helfen, ihre Sehnsucht zu lindern.
Endlich fuhren unsere Busse vor. Einige von uns stiegen ein und setzten sich. Ich bekam einen Platz neben einer Palästinenserin, die in der kanadischen Diaspora lebte. Ich bemerkte, dass sie weinte. Als mehr und mehr in die Busse stiegen, begannen die Palästinenser, die bis dahin lediglich etwas niedergeschlagen gewirkt hatten, zu weinen und zu schniefen. Sie brachen in Tränen aus. In diesem Moment spürten wir die unmenschlichen Strategien der israelischen Politik am stärksten. Und die Stimmung im Bus wurde so finster, dass sich all meine Aufregung und die Vorfreude auf den Besuch in Jerusalem in Luft aufzulösen begannen.
Es war wirklich eigenartig.
Was mir so viel Schmerz verursachte, war nicht auf die Angelegenheit mit den Einschränkungen beim Besuch Jerusalems oder der al-Aqsa-Moschee beschränkt. Es ging nicht nur um Genehmigungen und deren Verweigerung. Genehmigungen und Einschränkungen sind zu einem Teil unseres täglichen Lebens in dieser Welt geworden, die von territorialen Grenzen und Nationalitäten bestimmt wird statt durch Menschlichkeit und Brüderlichkeit. Doch lässt sich die besondere Schwere der palästinensischen Situation nicht bestreiten.
Es war das Einsperren und Fesseln eines „Volkes“ auf alle möglichen Arten, das mir Schmerz verursachte. Es geht dabei darum, ihnen ihr natürliches Recht auf ein Leben in Würde zu nehmen. Die Verweigerung politischer Unabhängigkeit wird begleitet von einem Mangel an Freiheit in nahezu jedem Aspekt palästinensischen Lebens.
Ich versuchte mir an diesem Tag vorzustellen, ich sei selbst eine Palästinenserin. Es gelang mir, und um ehrlich zu sein, fühlte ich mich ernsthaft eingesperrt. Noch immer hasse ich das Gefühl, das ich an diesem Tag erlebte. Und dieses Gefühl lässt mein Gewissen nicht zur Ruhe kommen.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake
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The Reality of An Open City: Jerusalem | Sumana SIngha | CC BY-SA 4.0 |