Die politische Dimension der Straßenkunst
Immer wenn mich eine depressive Stimmung überkommt, fühle ich den Drang, eine neue Reise zu planen. So begann ich also in einem Reisekatalog zu blättern und machte mich schließlich nach Berlin auf, in eine Stadt, die meinem Herzen nahe steht. Aber ihr fragt euch vielleicht, warum ich überhaupt darüber rede.
Nun ja, mein Plan, nochmal nach Berlin zu reisen, ließ starke, nostalgische Gefühle in mir aufkommen, und ich begann, mir die Fotos meiner früheren Besuche dort anzusehen. Das erinnerte mich an eines der Dinge, die ich an dieser Stadt am liebsten mochte: Graffiti und andere Straßenkunst.
Man kann Zeichen von Kunst und Rebellion in den Straßen der meisten Metropolen dieser Welt finden. Ich erinnere mich an einen TEDx Talk über Graffiti, in dem jemand sagte:
Eine Stadt ohne Graffiti ist eine Stadt ohne Seele.
Ich glaube, dass das auch für die Straßenkunst im Allgemeinen gilt, und wage hinzuzufügen, dass einer Stadt ohne Graffiti und Straßenkunst die Grauschattierungen im Schwarzweißspektrum ihrer Persönlichkeit fehlen.
Banksy ermutigte uns:
Stellt euch eine Stadt vor (…), in der jede Straße überflutet ist von Millionen Farben und kurzen Sätzen. Wo es nie langweilig ist, an einer Bushaltestelle zu stehen.
Tut mir den Gefallen und versucht, euch eine solche Realität vorzustellen. Wie fühlt sich das an?
Die Straßenkunst hat begonnen, sich ihren besonderen Platz im Herzen jeder Gemeinschaft zu erobern, doch interessanterweise ist die Identität ihrer Schöpfer üblicherweise anonym. Zu Beginn mag dies eine Notwendigkeit aufgrund der Illegalität dieser Aktivitäten gewesen sein; doch ich glaube, dass es mit der Zeit zu einem Charakteristikum wurde, dem sogenannten „rätselhaften Spott der urbanen Kultur“.
Auf der mehr politischen Note bringt die Anonymität eine weitere wichtige Angelegenheit mit sich: die Urheberschaft. In der Filmindustrie zum Beispiel bezieht sich die Idee der Autorenschaft (wie Sofia Coppola, Stanley Kubrick oder Alfred Hitchcock) auf die persönliche Handschrift des Regisseurs oder der Regisseurin, auf die spezifische Aura, die sie in ihren Werken erschaffen – es ist aber auch eine Zelebration des Egos.
In der Welt der Straßenkunst behält der Autor diese unverwechselbare Aura, verweigert jedoch den Fokus auf das Ego.
Ein weiterer interessanter politischer Aspekt der Straßenkunst ist ihre Zugänglichkeit, sowohl in Bezug auf die Sichtbarkeit als auch auf das Verstehen. Ich war immer der Ansicht, dass sich diese beiden Elemente aus einander ergeben. Die meisten Straßenkunstwerke haben eine relativ geradlinige Botschaft (was auf keinen Fall negativ gemeint ist), weil sie sich im leicht zugänglichen öffentlichen Raum befinden und von jedem Vorbeikommenden verstanden werden sollen.
Wenn man ein Kunstwerk im öffentlichen Raum zeigt, macht man zugleich klar, dass es alle Barrieren, wie Bildungsstand, sozialer Status, Herkunft oder Religionszugehörigkeit, überschreiten soll. Und das funktioniert nur, wenn das Kunstwerk die Sprache der breiten Masse spricht.
Vielleicht ist es einfacher, Straßenkunst im Vergleich zu jeder anderen Art von Kunst zu verstehen, wenn man ihre Neigung berücksichtigt, aktuelle globale Phänomene zu thematisieren. Um ein Beispiel zu nennen für ein Straßenkunstwerk, das ein aktuelles Ereignis kommentiert:
Vielleicht noch offensichtlicher zugänglich ist Straßenkunst durch ihre öffentliche Präsentation. Ähnlich wie die Idee, Straßenkünstler zu Promis zu machen, durch ihre Anonymität unmöglich gemacht wird, so wird die Idee, diese Kunst zu Geld zu machen, durch ihre Platzierung im öffentlichen Raum verhindert. Ich weiß, dass in der letzten Zeit viele Museen und Galerien ihre Politik geändert haben und freien Eintritt gewähren, doch sind sie nach wie vor von einer Aura der Exklusivität umgeben.
Die Straßenkunst ersetzt also Exklusivität durch Inklusivität, indem sie die Straßen in einen Ausstellungsraum verwandelt und die Welt zu einem Outdoor-Museum macht, das sich ständig weiterentwickelt und ausdehnt.
Stellt euch eine Stadt vor, die sich anfühlt wie eine Party, zu der jeder eingeladen wurde, und nicht nur die Repräsentanten des Staates und die Barone des Big Business.
(Banksy)
Denn was geschieht, wenn Straßenkunst von Konzernen vereinnahmt würde? Was geschieht, wenn sie zu einer Marke gemacht würde? Es scheint nämlich, als hätten große Firmen Geschmack daran gefunden – oder vielleicht haben sie auch einfach nur verstanden, dass die Nutzung der Straßenkunst innerhalb eines Nischenmarktes profitabel sein kann. Ich bin sicher, jedem von uns würden ein paar Firmen einfallen, die bereits Straßenkunst oder Graffiti zu Marketingzwecken verwendet haben!
Wenn Straßenkunst also zu einem Werkzeug der Manipulation in der Konsumsphäre wird – können wir sie dann noch immer als Straßenkunst bezeichnen? Verstößt das nicht gegen ihre Kernprinzipien? Ist das nicht eine Form von Perversion in Anbetracht der Tatsache, dass Straßenkunst zumeist (unglücklicherweise) noch immer als Vandalismus angesehen und stark reguliert wird?
Denn generell – oder zumindest möchte ich daran glauben, dass dies noch immer der Status quo ist – ist die Straßenkunst ein Werkzeug gegen die Mächtigen, ein Mittel von Subversion und Rebellion.
Bevor ich euch selbst eine Meinung zu diesem Thema bilden lasse, möchte ich betonen, dass ich mir darüber bewusst bin, selbst genau das zu tun, was ich eben kritisch diskutiert habe: Die Kunst von dort zu nehmen, wo sie hingehört – von den Straßen – und ihre Zugänglichkeit zu begrenzen, indem ich sie auf einer Online-Plattform poste. Doch ich habe mich entschieden, diese Fotos zu verwenden in dem guten Glauben, dass sie einige meiner Punkte illustrieren und vielleicht dabei helfen können, einige der Stigmata zu beseitigen, die diese bemerkenswerte Kulturform umgeben.
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake