Die Köpfe der Hydra – Verschobene Werte
Unser Kompass für Moral zeigt nicht mehr zuverlässig dorthin, wo er sollte. Einerseits werden Rücksichtslosigkeit und Verschlagenheit, die oft zu finanziellem Erfolg führen und daher Anerkennung finden, uns unter den Euphemismen (= beschönigende Bezeichnungen) „Drive“, „Durchsetzungsvermögen“ und „Verhandlungsgeschick“ als erstrebenswert verkauft. Andererseits werden Menschlichkeit und Mitgefühl als „Gutmenschentum“ verunglimpft.
In Wirklichkeit ist es nicht das Leben, sondern wir selbst, die aus der Welt kollektiv ein Jammertal machen. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wir sind es auch, die das wieder ändern können. Hier sind einige der beobachtbaren Anzeichen für die Irrwege unseres kollektiven Empfindens.
Schwarz-Weiß Denken
Wir haben keine Kapazitäten für differenziertes Betrachten einer Situation, wir wollen schnell einteilen und als erledigt abhaken. Die eine Seite eines Konfliktes ist böse, die andere gut. Die Beispiele hierfür sind zahllos, und gehen von Scheidungsdebakeln bis zu Kriegen.
Obendrein ist die Abbildung von Menschen oder Standpunkten auf so einem Spektrum immer eine grobe Vereinfachung, die man durch geschicktes Auswählen der richtigen Fragestellung zur Meinungsbildung missbrauchen kann. Schließlich kann jemand in einem Punkt vollkommen daneben liegen und in einem anderen wieder recht haben – wie soll eine Platzierung auf einer gut/böse Skala dem Rechnung tragen können?
Oft genug werden obendrein Dinge als natürliche Gegensätze dargestellt, die es nicht sind. So ist Ulme nicht das Gegenteil von Linde, Pest ist nicht das Gegenteil von Cholera und Kapitalismus nicht das Gegenteil von Kommunismus. Beides sind Ideologien, die um einen wahren Kern gewaltige Schichten von Halbwahrheit gehüllt, ein paar glatte Lügen darübergesprenkelt, und das Ergebnis als unantastbares Gedankengebäude dargestellt haben.
Gier / Konsumwahn
Es ist niemals genug – das Ansammeln von Dingen ist uns Trost und Bedürfnis zugleich – aber nie sind wir befriedigt. Kaufen und Wegwerfen, Wollen und gleich darauf das Interesse verlieren.
Nicht nur kosten diese zahllosen unterschwelligen Nachrichten geistige Kapazität, sie wecken auch Begehrlichkeiten und Unzufriedenheit auf einer Ebene, auf der wir schutzlos sind. Das Argument vom mündigen Konsumenten gilt für unser Unterbewusstsein nämlich leider nicht.
Neid
Wir gönnen einander nichts, wir wollen nicht sehen, dass jemand auch nur ein Staubkörnchen bekommt, das ihm unserer Meinung nach nicht zusteht.
Diesen Maßstab legen wir allerdings nur bei den Schwächeren an, wer ganz oben ist wird bewundert, ganz gleich ob er sein Vermögen geerbt oder erarbeitet hat, ob er aufbaut oder zerstört, ob er hilft oder sabotiert.
Zwang zur Extrovertiertheit
Wer introvertiert ist, muss repariert werden. Wie man zu sein hat, ist: aufgedreht, hyperaktiv, knallbunt, fröhlich und gesellig. Leute, die ein wenig mehr Ruhe brauchen, gelten in der Welt der Großraumbüros als gehemmt. Wer vor Entscheidungen zu lang nachdenkt, ist zögerlich. Wer tiefsinnige Filme mehr schätzt als Actionknaller, ist langweilig.
Wir berauben uns damit all dessen, was die etwas ruhigeren und nachdenklicheren Menschen beitragen könnten, weil sie sich aus der viel zu hektischen Außenwelt zunehmend auf ihre Sofas zurückziehen und einfach nicht mehr mit den anderen interagieren.
Oberflächlichkeit
Wir laufen einem funkelnden Ideal nach, wollen das an jeder Ecke präsentierte Bild von Reichtum und Schönheit verwirklichen, ohne zu bedenken, dass seine Inszenierung in Wahrheit ein ganzes Team von Stylisten erfordert und es nur einen Moment lang existiert. Wir beurteilen einander danach, was wir haben, wie wir gestylt sind und welchem Broterwerb wir nachgehen.
Wir suchen unsere Partner nach Einkommen und Aussehen, und erwarten dann, dass der knallharte Businessmann privat ein Märchenprinz ist, und dass die Prinzessin, obwohl sie unübersehbar Stunden braucht um ihren perfekten Look zu erreichen, sich um jemand anderen als sich selbst zu kümmern bereit wäre.
Übersexualisierung
Wir werden überschwemmt mit Bildern von halbnackten Frauen, sexy Schulmädchen und Jungs mit Waschbrettbauch. Sex sells. Und um noch mehr aufzufallen, wird er immer provokativer und aggressiver.
Auch die unfassbare Menge an Pornografie, die im Internet hinter jeder Ecke lauert, macht die Welt nicht besser – und zwar keineswegs etwa aus Gründen der Prüderie, sondern weil die Darstellung praktisch nie liebevolle oder stürmische, begeisterte Begegnungen zwischen einander wertschätzenden Menschen zeigt.
Wir sehen kalte, stylishe Massenware, die uns im Internet an jede Ecke anspringt, eine Verherrlichung von Ausschweifungen aller Art, die einem das Gefühl vermittelt, Sex ohne Rollenspiel, Hilfsmittel oder Akrobatik sei für Langeweiler.
„Jedem Tierchen sein Pläsierchen“ gilt zwar uneingeschränkt, soweit alle mündig sind und freiwillig mitspielen. Dass aber in Geschäften, die auf Teenager abzielen, Reizwäscheabteilungen mit relativ verrucht-erwachsener Thematik zu finden sind, geht mir ein wenig zu weit, ebenso wie der Trend, dass echte Perversion (im Sinne von: keine Befriedigung ist ohne den jeweiligen Fetisch möglich) zur Kunstform hochstilisiert wird.
Arroganz
Auch all die früheren Irrtümer von Medizin und Wissenschaft waren Anfängerfehler. Jetzt hingegen sind unfehlbare und unkorrumpierbare Profis zugange. Und was diese sagen, gilt. So wischen wir geistig nonchalant jahrtausendealte Weisheiten beiseite und zerstören ebenso beiläufig anderer Länder Lebensgrundlage – denn letzten Endes sind bis auf uns alle nur Barbaren.
Gleichgültigkeit
Wer sich moralisch richtig verhalten will, bekommt dadurch Nachteile: Fair-Trade Produkte, umweltfreundlich und in ethischer Tierhaltung erzeugte Waren etc. sind unverhältnismäßig teurer – wo bleiben hier die Subventionen, die es Konsumenten mit niedrigem Einkommen erlauben, ihre angebliche Macht durch Kaufentscheidungen auszuüben?
In der Arbeitswelt haben Blender und Psychopathen die Nase vorn. Wer Fehler zugibt, sich nicht mit fremden Federn schmückt, nicht intrigiert und einfach nur gute Arbeit leistet, findet sich oft genug als unbeachtetes Arbeitstier auf dem Karriere-Abstellgleis. Wer soziale Missstände anprangert, wird als Utopist verunglimpft.
Wir sind alle erbost darüber, wenn es uns geschieht – und doch greifen wir nicht ein, wenn es andere trifft. Solange wir Fairness nicht fordern, verteidigen und leben, wird sie uns selbst auch nicht zuteil werden. Leider ist zerstörerisches und asoziales Verhalten aber die beste und lohnendste Strategie, solange es keine negativen Konsequenzen hat.
Täuschung
Diese Einstellung führt zu einer vollkommenen Beliebigkeit der Aussagen im öffentlichen Raum – und zu Schulterzucken, wenn es gelegentlich auffliegt.
Wer wird denn so naiv sein, einem Politiker oder CEO zu glauben, sie haben doch gar nicht die Wahl, ehrlich sein zu dürfen.
Und das ist tatsächlich wahr – schon die eigene Partei würde einen ehrlichen Politiker zerreißen. Und wie Statistiken eindeutig zeigen, tun die Wähler es ihnen gleich. Ebenso würde praktisch jede Corporation einen moralisch handelnden Geschäftsführer sehr rasch gegen einen austauschen, der maximale Gewinne einfährt.
Coolness ist unser Ideal
Aber haben wir uns je gefragt, was der Begriff wirklich bedeutet? Sicher, wer cool ist, den erschüttert nichts, der steht drüber. Aber wie kommt man denn in so eine Position? Ganz recht, indem einem nichts nahe geht. Wir haben, in der Tat, das Psychopathentum zum Ideal erhoben.
Laut zahlreichen Studien sind vor allem in Führungsetagen Sozio- und Psychopathen unverhältnismäßig häufig vertreten – wen wundert es …
Überbetonung von Intellekt gegenüber Intuition
Wir scheinen uns in einer Gedankenfalle verirrt zu haben.
Inzwischen zeigt sich immer deutlicher, dass die besten Wissenschafter ihre bahnbrechenden Ideen sehr oft durch intuitive Vorgänge haben und dass kreative Techniken oft schneller, wenn auch weniger nachvollziehbar, zu Ergebnissen führen.
Sie sind also keine Vorstufe zur Intelligenz, auch wenn sie evolutionär älter sind, sondern einfach etwas ganz anderes, gleichwertiges. Dass wir sie so geringschätzen, ist eines unserer tiefsten Probleme: Hirn über Herz – dabei kennt doch jeder aus dem eigenen Leben Situationen, in denen der Kopf erst viel später erfasst hat, was der Bauch längst wusste.
Obendrein neigen wir auch noch dazu, diese Eigenschaften als männlich/weiblich zu sehen, obwohl beide Geschlechter sie in sich vereinen – sofern nicht ein Teil unterdrückt wird.
Ein paar Generationen mit fortschrittlicheren Ansichten (und ein paar wohlmeinende aber strohdumme Ausschläge ins gegenteilige Ideal der vollkommenen Negierung von Unterschieden) können diese Aufteilung nicht einfach ungeschehen machen. Das erfordert entweder bewusste Arbeit oder noch sehr viel mehr Zeit.
Was mit uns geschieht, ist bizarr und erschreckend. Wir haben uns vollkommen verrannt und verirrt – so sehr, dass wir nicht mehr wissen, wo wir hin wollen. Kein Wunder, dass sich so viele Menschen fragen, was der Sinn des Lebens sein soll.
Wären wir ein bisschen robuster in unserer geistigen Gesundheit, wüssten wir, dass der Sinn ist, da zu sein, den Moment zu genießen und seine Famillie und Freunde zu lieben – und wer ein wenig nachdenklicher ist, wird für sich spüren, dass er vielleicht zusätzlich auf eine spirituelle oder philosophische Sinnsuche gehen muss.
Stattdessen treiben wir haltlos in einer Bedeutungsleere, weil uns ständig Kekse in den Mund gestopft werden, wenn wir doch eigentlich nur einen Schluck Wasser bräuchten. Wir bekommen Reize, Belohnungen, Vorschläge für neue Begierden, Information und Druck. Wir bekommen alles, nur keine Besinnung.
Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken.
(Friedrich Nietzsche)
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Sie leben! | Eduard V. Kurganov | CC BY 2.0 |