Die Köpfe der Hydra – Blindes Vertrauen in die Obrigkeit

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Meinung

Das Milgram-Experiment hat es auf erschreckende und eindringliche Weise gezeigt: Autoritätsfiguren lösen in uns kritiklose Unterwürfigkeit aus – ein blinder Fleck mit sehr weitreichenden Folgen. Nicht nur nehmen wir viel zu viel widerspruchslos hin, wir identifizieren uns auch noch so stark mit Herrschaftsstukturen bis hin zum reichlich abstrakten Gebilde des Staates, dass wir andere angreifen und maßregeln, wenn sie protestieren.

Wenn entgegen den Interessen des Großteils der Bevölkerung entschieden wird, neigen wir dazu, es Einzelakteuren anzulasten, anstatt die Motivationen der Regierung eigentlich insgesamt in Frage zu stellen. Schließlich wird uns ja auch beigebracht, dass der Staat eine Art Vertrag darstellt:

Um Schutz und Infrastruktur zur erhalten, geben die Bürger einen Teil ihrer Einkünfte ab und wählen aus ihrer Mitte Vertreter, die darüber entscheiden, wie man diese Ressourcen weise und zum Wohle aller einsetzen kann. Genau das ist die Funktion der Regierung, die ihrem Volk damit dient und wie gütige Eltern für es sorgen sollte.

Soweit die Theorie, die im Übrigen nicht die Grundlage war, die zu Regierungsbildungen geführt hat, sondern im Nachhinein entwickelt wurde.

Werfen wir einen Blick darauf, wo und warum dieses Modell von der Realität abweicht – nicht anhand von Beispielen für die Missetaten der einen oder anderen Seite, sondern durch Logik:

Unbequeme Wahrheiten

Gleichgültig, wie viele wohlmeinende Akteure sich dagegenstemmen: Es liegt in der Natur einer jeden Form von Regierung, unaufhaltsam in Richtung der Interessen der (einfluss-)reichsten Bürger zu kippen. Und das ist keineswegs ein kleiner Fehler im System, der durch ein Drehen an der einen oder anderen Schraube behoben werden könnte, sondern sitzt vielmehr im tiefsten Kern des Konzepts.

Was bedeutet ein Regierungsposten oder Amt?

Je höher die Position, desto mehr Information und Möglichkeit der Einflussnahme (sprich: Macht) bringt sie mit sich. Da die verschiedensten Themen an einer Stelle zusammenlaufen – nämlich im Parlament, welches von Hustensaft-Zutaten über Verkehrsordnung für alles kompetent und zuständig ist, ist es auch ohne großen Aufwand möglich, an genau dieser Schaltzentrale großen Einfluss von außen zu üben.

Diejenigen, die in letzter Konsequenz über all die verschiedenen vorgelegten Themen und Gesetze entscheiden, wissen natürlich nicht über alles gründlich Bescheid, sondern müssen sich auf Berater und Ministerien verlassen – oder einfach der Parteilinie folgen (was Entscheidungen zur Währung zwischen Parteien verkommen lässt).

Selbst bei relativ überschaubaren Themen ist es unrealistisch, zu glauben, jeder Abgeordnete hätte sich gründlich genug eingelesen. Mit Sicherheit kann man aber ernsthaften Zweifel hegen, wenn es beispielsweise um Fragen der Chemie, Medizin oder Internetgesetzgebung geht. Umso leichter haben es Lobbyisten, die einerseits einzelne Abgeordnete und andererseits die jeweiligen Parteispitzen bearbeiten können.

Wenn Abgeordnete nun zum Beispiel hinter verschlossenen Türen glatte Lügen verbreiten, was zumindest eine denkbare Strategie ist, wird es problematisch:

Gegen einen Irrglauben, von dem sie nichts weiß, kann die Gegenseite schließlich schlecht argumentieren. Wie viele der getroffenen Entscheidungen basieren wohl auf Mangel an Information und wie viele auf Falschinformation, geschickt verdrehten Tatsachen oder Halbwahrheiten? Auch wenn auf eher halbherzige Art auf die eine oder andere Weise versucht wird, dies zu verhindern:

Solange Entscheidungen zentral getroffen werden und somit von Menschen ausgehen, die nicht selbst von den Auswirkungen betroffen sein werden, sind diesen Mechanismen Tür und Tor geöffnet. Darüber hinaus wird wohl der eine oder andere Abgeordnete seine Entscheidungskraft wissentlich für den eigenen Vorteil missbrauchen.

Für wen ist ein Regierungsamt attraktiv?

Für narzisstisch oder gar soziopathische veranlagte Persönlichkeiten – um gleich mit den unangenehmsten Beispielen zu beginnen – stellt solch eine Position so etwas wie eine Spielwiese dar, die all ihren Bedürfnissen entgegenkommt und es noch dazu möglich macht, ganz nebenbei reich zu werden oder sich zumindest der Dankbarkeit einflussreicher Persönlichkeiten zu versichern.

Ein Streben nach politischer Macht ist für so jemand also lohnend, befriedigend und unbelastend (da Narzissten sich die Wahrheit beliebig zurechtdrehen und Soziopathen genau dadurch gekennzeichnet sind, keine Gewissensbisse zu kennen).

Für besonders altruistische und gewissenhafte Menschen, deren Anwesenheit in hohen Ämtern sehr wünschenswert wäre, bedeutet aber jegliche Machtposition in erster Linie ein Leben voll schwerer Entscheidungen, Grübeleien und Hinterfragen sowie einen ständigen Konflikt mit machtvollen Interessensgruppen und wenig Anerkennung für erreichte Erfolge. Kein allzu attraktives Gesamtpaket also für sie.

Welche Charakterzüge setzen sich durch?

Ein geradliniger Mensch hat ein paar entscheidende Nachteile auf dem Weg nach oben:

Zum einen ist ein geradliniger Mensch durch seine Prinzipien berechenbar und kann dadurch leicht in Zwangslagen gebracht werden. Zum anderen steht ihm ein ganzes Arsenal an Werkzeugen nicht zur Verfügung, derer sich skrupellosere Menschen nach Herzenslust bedienen können: Wer Intrige, Lüge, Verrat usw. einsetzt, kommt schneller weiter und kann Konkurrenten ausbooten.

Diese Gründe allein bieten einen guten Anlass, jeglicher Regierung gegenüber ein gesundes Maß an Vorsicht walten zu lassen. In jedem Machtzentrum, das es je gegeben hat, herrscht ein Klima, das wohlmeinende Menschen quasi schon in der Vorauswahl abschreckt. Und die wenigen von ihnen, die allem Unbill zum Trotz doch ihr Glück versuchen, schnell entweder korrumpiert oder als unliebsame Störfaktoren an die Glasdecke stoßen lässt.

Am besten fährt, wer sich vollkommen pragmatisch für nichts interessiert, möglichst viele Positionen gleichzeitig bekleidet und allgemein nicht aneckt. Wie offen und ausgeprägt diese Mechanik ist, variiert von Land zu Land, und nimmt zu, je stärker zentralisiert (und damit von den Auswirkungen ihrer Entscheidungen räumlich getrennt) eine Landesregierung operiert, je mehr Ressourcen dort zusammenlaufen und je größer und unübersichtlicher der Verwaltungsapparat ist.

Gelegentlich mag der eine oder andere ehrliche Politiker durch Glück und Charisma doch an die Spitze kommen; unbestreitbar ist aber, dass das Übel untrennbar mit dem System verflochten ist und es per se zur problembeladenen Sammelstelle unangenehmer oder zumindest opportunistischer Charaktere macht. Nun kommen aber noch äußere Einflüsse hinzu.

Woher weht der Wind?

Ein System, auf das von beiden Richtungen Druck ausgeübt wird, befindet sich im Gleichgewicht. Nimmt der Druck von einer Seite ab, so wird es sich verschieben und den Platz der schwächeren, nachgiebigeren Seite einengen.

Nun könnte man sagen, der Druck der Mehrheit und der Druck der oberen Zehntausend seien ungefähr gleich, weil mit den Mitteln der Demokratie viel Macht in der Masse liegt. Freilich konnte diese Mehrheit praktisch zu keinem Zeitpunkt tatsächlich etwas entscheiden, sondern nur auswählen, wer die Entscheidungen für sie treffen soll – in der oft enttäuschten Hoffnung, die gegebenen Wahlversprechen würden eingelöst und die Wünsche der Menschen durchgesetzt.

Den vernetzten, wohlhabenden Oberschichten hingegen stehen obendrein zahlreiche zusätzliche Mittel der Einflussnahme zur Verfügung. Politik und Rechtssystem werden schließlich nicht von der Unterschicht besetzt. Somit fühlen sich in letzter Konsequenz alle Institutionen real nicht dem kleinen Mann, sondern der Oberschicht verpflichtet, aus deren Mitte sie stammen.

Nicht nur gehören all ihre Freunde und Verwandten der kulturellen und monetären Elite an, was, gelinde gesagt, eine Voreingenommenheit darstellt. Sie haben auch keine Erfahrung damit, was Mittellosigkeit wirklich bedeutet und können sich umso leichter der Illusion hingeben, dass jeder die faire Chance auf einen sozialen Aufstieg hätte und Armut ein selbstverschuldetes Schicksal sei.

Vielleicht meinen sie sogar, sie täten ein gutes Werk, wenn sie den vermeintlich faulen Menschen Grund zu größeren Anstrengungen geben.

Hinzu kommt in den letzten Jahrzehnten auch das vollkommene Desinteresse eines Großteils der Bevölkerung, der das Ruder einfach aus der Hand gelegt hat und ruhig zusieht, wie all ihre mühsam erkämpften Rechte mehr und mehr beschnitten werden. So oder so, von oben kommt bei weitem mehr Druck als von unten, mit dem zu erwartenden Ergebnis:

Vollkommene Ineffizienz

Ohne diesmal ins Detail zu gehen, kann man pauschal festhalten, dass in praktisch allen Angelegenheiten über unsere Köpfe hinweg für uns entschieden wird, ohne dass wir viel dagegen tun können – und das, obwohl unser gesamtes Leben sehr direkt betroffen ist. Anliegen von größter Brisanz für die breite Masse (aber praktisch ohne Auswirkungen auf das Privatleben derer die darüber entscheiden) werden endlos auf die lange Bank geschoben und von Tagespolitik überlagert.

Das Dach brennt an zahllosen Stellen, aber wir konzentrieren uns auf Anschläge, bei denen, im Vergleich, einige wenige Menschen ums Leben kommen (was grauenhaft und unentschuldbar ist). Wir vergessen aber, dass aufgrund der wachsenden Grobmaschigkeit des sozialen Netzes (und vieler anderer Versäumnisse) Tausende von Menschen verfrüht sterben. Und immer mehr von uns psychisch krank werden.

Der Vorwurf gilt übrigens keineswegs unserer Regierung im Besonderen: Überall auf der Welt geschieht das Gleiche, anderswo noch viel erbarmungsloser als hier. Der generelle Trend ist aber eindeutig und verheißt nichts Gutes.

Ist das Vertrauen in die Weisheit unserer Anführer gerechtfertigt?

Wir glauben in grenzenloser Naivität, dass „da oben“ schon jemand aufpasst, dass zwischen einem ständigen Hintergrundrauschen aus Mauschelei und Lügen letzten Endes dann doch alles irgendwie richtig läuft. Dass einzelne wohlmeinende Politiker etwas Grundlegendes ändern können. Dass niemand uns jemals wissentlich Gefahr aussetzen würde. Dass sie sich verantwortlich fühlen und für unser Wohl kämpfen.

Obwohl wir immer wieder feststellen, dass dem nicht so ist, dass mächtige Interessensgruppen Gesetze verhindern oder vorantreiben, wie es ihnen gefällt, dass wir jahrelang offizielles Dementi zu bestimmten Sachverhalten hören, und die Beweise zehn Jahre später plötzlich so erdrückend werden, dass ein 180 Grad-Schwenk durchgeführt und das Gegenteil behauptet wird – bleiben wir doch unerschütterlich in unserer Überzeugung, dass im tiefsten Kern alles gut ist.

Dieses vollkommen irrationale und ungerechtfertigte Grundvertrauen bleibt unausrottbar und tut uns keinen Gefallen. Die größten Errungenschaften, die wirklich uns, den vielen, zu Gute kommen, wurden immer von Bewegungen aus unserer Mitte erkämpft, und uns nicht einfach gegeben.

Solange wir glauben, dass die „Verwalter der Welt“ sich, ohne dass wir ihnen dabei die ganze Zeit über die Schulter schauen und korrigierend eingreifen, schon alles zu unserem Besten ausschnapsen werden, rasen wir weiter auf den Abgrund zu. Die Regierungen sind im besten Fall wohlwollend aber mehr oder weniger handlungsunfähig; im schlimmsten denkbaren Szenario sogar dem eigenen Volk feindlich gesonnen.

Warum sonst nimmt wohl auch die Überwachung dermaßen überhand? Müsste sich eine Regierung, die wirklich im Sinne des Volkes handelt überhaupt vor ihm schützen? (Und auch wenn immer wieder die Sorge über Bedrohungen von außen genannt wird: Es ist offensichtlich, dass wir durch mehr Überwachung keine Sicherheit gewinnen, sondern nur Privatsphäre verloren wird.)

Egal wie tief es wirklich geht oder wie schlimm oder auch harmlos die Erklärung sein mag: Es geschehen weltweit immer mehr Tragödien (von Hunger und Krieg über Terror und Umweltzerstörung), die niemand will und doch – scheinbar – keiner aufhalten kann. Und das bedeutet:

Die Zeit für blindes Vertrauen ist vorbei.

Die Regierungen schaffen keine Verbesserungen für uns, also müssen wir unsere Sicht- und Denkweise grundlegend ändern und schleunigst gemeinsam nach Lösungen suchen. Nicht mit der Heugabel, sondern – wie immer – mit Herz und Hirn.

Es gibt zahllose Ansätze, wie es besser gehen könnte und jede Menge kluger Köpfe, die ihr Leben damit verbringen, alternative Modelle durchzudenken, denen aber niemand zuhört, weil das System quasi als Selbstläufer alles unterdrückt, was zu seiner eigenen Absetzung führen könnte. Wir müssen die Mittel der Demokratie nützen, um sie in ihrer derzeitigen Form abzusetzen, in einem entschlossenen aber behutsamen Prozess. Die Zeit drängt.

Wie könnten Alternativen denn aussehen?

Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um die Aufgaben, die eine bessere Regierungsform so schnell wie möglich anpacken müsste, sondern um die Veränderungen, die überhaupt erst zu einer handlungsfähigen Regierung führen könnten. Einige prinzipielle Schwächen unseres Systems sind leicht genug erkennbar:

Wir müssen den Nachteilen der Machtkonzentration entgegenwirken, indem wir dezentralisieren und Zuständigkeiten voneinander entkoppeln – unter Beibehaltung der notwendigen Vernetzung zur Lösung von globalen Problemen. (Dennoch darf es keine Weltregierung geben – kennen Sie den Ausspruch „Absolute Macht korrumpiert absolut“? Nicht auszudenken, welchem Größenwahn die Angehörigen einer solchen Institution über kurz oder lang anheim fallen würden.)

Wir müssen Wege finden, politische Ämter unattraktiv zu machen für Menschen, die sie aus den falschen Gründen anstreben, und befriedigend statt frustrierend für jeden, der aus echtem Willen zur Verbesserung dorthin strebt. Lügen und gebrochene Versprechen dürften nicht ohne Konsequenz bleiben, und schon gar nicht dürften sie, wie jetzt, einfach politischer Alltag sein, bei dem sich niemand mehr etwas denkt.

Mitsprache muss viel stärker gegeben sein, andererseits müsste jeder, der über etwas mitentscheiden will auch wirklich informiert sein. Und so weiter, und so fort … das höchste und schönste Ziel wäre, ganz ohne Fremdbestimmung (Was nicht ‚ohne Struktur‘ bedeutet!) auszukommen – aber ehe jeder einzelne Mensch dafür hinreichend verantwortungsbewusst, sozial und genügsam ist, vergehen wohl noch Jahrhundert; insbesondere wenn wir weiterhin durch pausenlosen künstlich erzeugten Stress am persönlichen Wachstum gehindert werden.

Was auch immer wir ausprobieren werden: Es wird Rückschläge und Irrtümer dabei geben. Zuallererst gilt es aber zu akzeptieren, dass unsere derzeitige Form des globalen Zusammenlebens ausgedient hat, dass es zu unnötigem und vielfachem Leid führt und dass wir uns umfassend neu ordnen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Macht des Volkes dabei nicht als große Illusion entpuppt – aber zumindest wären dann die Karten auf dem Tisch.

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