Die Köpfe der Hydra – Geheimniskrämerei
Es scheint uns selbstverständlich, dass wir nirgendwo hinter die Kulissen blicken können.
Weder erfahren wir, was unseren Lebensmitteln an Hilfsstoffen beigemengt ist (Zutaten unter einem gewissen Schwellenwert müssen nicht angegeben werden), noch können wir Einblick in die Preisgestaltung nehmen.
Wir können nicht feststellen, woher Rohstoffe bezogen werden oder wie die Transportwege aussehen. Ob ein Produkt unnötig durch drei Länder gekarrt wurde, weil einzelne Produktionsschritte so billiger werden – wie also der ökologische Fußabdruck und somit die wahren Kosten aussehen.
Wir können innerhalb einer Firma nicht vergleichen, wie viel andere Mitarbeiter verdienen. Dass es auch anders geht, zeigen löbliche Ausnahmen, die sich an anders aufgebauten Systemen probieren. Dennoch stehen dieser Art von Veränderung verständlicherweise oft genau jene Entscheidungsträger entgegen, denen es am schwersten fallen dürfte, ihr Gehalt zu rechtfertigen.
Keine Geschäftsgeheimnisse mehr
Auf den ersten Blick klingt das Konzept der allgemeinen Offenlegung naiv, wie so vieles, das die Welt zu einem faireren Ort machen könnte. Wie soll das funktionieren: Müsste nicht jeder kleine Geschäftsmann bankrott gehen, wenn er seine mühsam errungenen Erfahrungen mit allen zu teilen hätte? Freilich wären die Erfahrungen bei Weitem nicht so mühsam zu erringen, wenngleich er auch den Vorteil von Anfang an gehabt hätte, z.B. einfach nachsehen zu können, welche Hersteller bei welchen Lieferanten einkaufen.
Cui bono? Wem nützt der aktuelle Stand?
In Wirklichkeit ziehen aber gar nicht die ums Überleben ringenden Kleinunternehmen den größten Nutzen aus dem Status quo, sondern vielmehr die Giganten in der Wirtschaftslandschaft:
Sie können ihre oft unethischen Praktiken so am besten verschleiern und der Allgemeinheit einen großen Teil der wahren Kosten ihrer Produkte aufhalsen – das geschieht zumeist in den wehrlosen Ländern, in denen die Produktionsstätten stehen und die Menschen in neuer Sklaverei leben.
Die Frage der Steuerhinterziehung wäre mit einem System der Offenlegung ebenfalls erledigt. Das wenige Geld, das sich aus den Kleinen herauspressen lässt, ist ein Tropfen auf den heißen Stein für die Budgetlage – bedeutet aber für die Betroffenen den Unterschied zwischen dem ohnehin bescheidenen Erfolg, mit dem ein Kleinunternehmer vielleicht noch rechnen darf, und einem folgenreichen Absturz in die Privatinsolvenz.
Die wahrscheinlichste Erklärung ist, wie immer, die einfachste: Konkurrenz wird von oben sehr effizient verhindert, indem eine Kombination aus zu hohen Abgaben und einem abstrusen Ausmaß an Zusatzarbeit und Kosten dem Kleinunternehmer das Wasser abgräbt. Anders als bei großen Firmen, für die dieser Aufwand nur ein Posten unter vielen ist, wird Einzelunternehmern dadurch ein gewaltiger Teil ihrer größten Ressource – nämlich der eigenen Zeit und Energie – abgesaugt, ohne dass sie dafür etwas bekommen.
Kartelle, Absprachen und unklare Besitzverhältnisse
Vieles, das auf den ersten Blick getrennt aussieht, ist es nicht. Immer mehr Macht über die elementarsten Dinge (Nahrung, Energie, Kommunikation, Medien, Pharmazie) konzentriert sich in immer weniger Händen. Die Gefahr, die von den Molochen ausgeht, deren Namen man häufig von Globalisierungsgegnern hört, ist noch einigermaßen nachvollziehbar, obwohl erstaunlich viele Leute davon nichts zu bemerken scheinen.
Ihr Wirken lässt die Palette an Produkten immer enger werden und die alternativen Bezugsmöglichkeiten mehr und mehr schwinden.
In wie vielen Händen läuft diese immense Macht zusammen? Wir wissen es schlichtweg nicht.
Zum Rechtsbruch lizensiert
Aber die Geschäftswelt ist nicht der einzige Schauplatz, an dem uns das Prinzip der Geheimhaltung nicht guttut:
Auch in der globalen Politik, die mit der Wirtschaft freilich eng verwoben ist, arbeitet man nicht in unserem Interesse. Haben Sie sich je überlegt, welche enormen Befugnisse Geheimdienste haben – eine per se undemokratische und zutiefst zwielichtige Sache?
Unser Bild von ihren Umtrieben bekommen wir aus den zahllosen Filmen und Serien vermittelt, die uns immer und immer wieder versichern, dass sie allesamt nur zu unserem Besten bestünden und in unserem Interesse arbeiten. Manche Bedrohungen, so heißt es, kann man eben nur im Schutze des Schattens abwenden.
Die einzige Begründung für all diese Übel – Wettrüsten, Spionage, Einflussnahme – ist im Großen wie im Kleinen immer nur: Weil es die anderen ja auch tun. Das ist der berühmte Zehenspitzeneffekt: Stellen sich in einem Konzert einige Leute auf die Zehenspitzen, um mehr zu sehen, müssen alle hinter ihnen das Gleiche tun, bis das ganze Stadion unbequem steht und um nichts besser sieht.
Militärgeheimnisse und Betriebsgeheimnisse von Waffenherstellern
Pure Science-Fiction, meinen Sie? Pustekuchen! Wenn etwas technisch machbar ist, dann wird es auch irgendwo getan. Unser Wissen hat diesbezüglich unsere Vernunft längst weit überflügelt. Denken Sie an den Zehenspitzeneffekt … Die anderen machen es auch, also dürfen wir nicht hinterherhinken.
Somit fühlen sich alle, die paranoid, machthungrig oder verrückt genug sind, um einen Weltenbrand zu riskieren, gerechtfertigt in ihrem Tun. Einzelpersonen mit obszön riesigen Vermögen, Konzerne, Sekten, Weltkirchen, Geheimdienste – all das sind Kandidaten, und letzten Endes ist egal, ob es fünfzig, zwanzig oder zwei sind. Einer genügt schon. Niemand sollte solche Macht jemals aufbauen können – schon die legalen Kampfmittel sind schlimm genug.
Machen wir es den Wahnsinnigen dieser Welt nicht auch noch so einfach, die Gelder zu tunneln, um im Geheimen die schrecklichsten Dinge zu tun, die wir nur aus unseren schlimmsten Alpträumen kennen. Es wird laut darüber nachgedacht, das Bargeld abzuschaffen – was für uns alle bedeuten würde, nicht das klitzekleinste Geschäftchen im Geheimen machen zu können, und obendrein jederzeit per Knopfdruck enteignet werden zu können.
Der gläserne Mensch
Wenn sie jeden Tastendruck weiterleiten wollten, könnten sie auch das tun, ohne dass der durchschnittliche Benutzer eine Chance hätte, das zu erkennen. Sie können unsere Suchergebnisse beeinflussen und unser Weltbild dadurch massiv mitgestalten. Sie sitzen mitten in unseren Heimen und ständig in unseren Taschen, aber de facto wissen wir nicht, was in ihren Programmierungen festgelegt ist.
Das ist eine zutiefst bedenkliche Lage. Aber, so mag man denken, wenn alles offengelegt würde, könnte das doch Hackern Tür und Tor öffnen! Letzten Endes aber nicht mehr und nicht weniger, als es jetzt auch schon der Fall ist, nur dass viel mehr Leute genug Wissen hätten, um den Code hin und wieder auf Auffälligkeiten zu überprüfen.
Es hat sich – gerade in der Welt der Software – auch schon oft genug gezeigt, dass eine Freigabe dazu führt, dass plötzlich nützliche Zusatzprogramme aus dem Boden schießen und das Produkt sehr rasch besser wird, weil quasi die ganze Menschheit daran arbeitet.
Mit immer leistungsfähigeren Suchalgorithmen und künstlicher Intelligenz ist die Sicherheit, die wir früher durch die schiere Unbewältigbarkeit der Datenmenge noch hatten, längst eine Sache der Vergangenheit.
Besonders lustig – oder erschreckend – finde ich in diesem Zusammenhang die auf Social Media-Plattformen wie Facebook immer wieder auftauchenden Fun-Persönlichkeitstests, bei denen arglose User für privateste Einblicke in ihr Seelenleben die absolut nutzlose Information erhalten, welchem Charakter aus ihrer Lieblingsserie sie am ähnlichsten sind.
Oder, wahrscheinlicher und noch viel erschreckender: Aus Ihren Äußerungen und allem, was über Ihr Verhalten bekannt ist, wird extrapoliert, welcher Ärger später von Ihnen ausgehen könnte – ob Sie sich gegen bestimmte Dinge wehren würden, ob Sie die Zusammenarbeit mit einem Regime verweigern würden.
Diese Frucht haben wir reifen lassen – wie lange wird es wohl dauern, bis jemand sie pflückt? Vorausgesetzt, dieser Baum wurde nicht gar von Anfang an in finsterer Absicht gesetzt. Die Möglichkeiten für einen praktisch unbesiegbaren Überwachungsstaat sind längst gegeben, und das ist fünf Schritte weiter, als wir es jemals hätten zulassen dürfen.
Erzwungenes Schweigen – dunkle Familiengeheimnisse
Auf wesentlich privaterer Ebene sind persönliche Geheimnisse einerseits ein Grundrecht, das ohnehin längst mit Füßen getreten wird und bedeutungslos geworden ist. Andererseits bedeutet das Aufrechterhalten einer Fassade nach außen hin oft großes Leid für die Mitglieder von Familien, die ein großes Geheimnis bewahren. Sei es Drogenkonsum (übrigens immer nur Symptom und Druckventil für ein tieferes Problem), Gewalt, Inzest oder wirtschaftliche Not …
Kurzum, mehr Offenheit wäre auf jeder Ebene unsere Rettung. Das ständige Schnüffeln, Datensammeln und Aushorchen ist zwar rigoros abzulehnen, und ich werde bestimmt nie aufhören, dagegen zu protestieren. Aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Es wird weiter geschehen, ob mit oder ohne unsere Zustimmung.
Die Kraft von Menschen lag immer schon in der Zusammenarbeit als Gruppe. Sich also einzubilden, dass wir als kleine Einzelkämpfer den großen Konglomeraten, die die Arbeits- und Geisteskraft Hunderter oder Tausender Angestellter für sich nutzen können, die Stirn bieten könnten, ist lächerlich.
Wir müssen die Mauern einreißen, die uns voneinander trennen – dann werden wir feststellen, dass nicht wir es sind, die sie gebraucht haben, sondern die Verbrecher, die uns belügen und bestehlen wollen. Sie wollen die Welt zu einem riesigen Verhörraum machen, in dem wir, aller Geheimnisse beraubt, im Scheinwerferlicht sitzen, während sie auf der anderen Seite des Spiegels unseren Blicken entzogen bleiben. Es wird Zeit, den Spiegel abzumontieren, den Clowns auf der anderen Seite ins Gesicht zu lachen und dann die Tür für immer hinter uns zu schließen.
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