Die Bedeutung der Meilensteine in der frühkindlichen Entwicklung

Lebenswelten

„Wieso hat mir das noch nie jemand gesagt?“, ist der Satz, den ich in Erstgesprächen mit Eltern wohl bisher am häufigsten gehört habe. Mich suchen zumeist Eltern auf, deren Kinder sich in der Schule oder im Verhalten oder in beidem bislang nicht so entwickelt haben, dass ein weitestgehend reibungsloser Umgang mit unserem Bildungssystem und damit ein entspanntes Familienleben möglich ist. Dabei wäre es so leicht, schon spätestens im Kindergartenalter aufgrund der Anzeichen im Verhalten zu sehen, welche Schwierigkeiten auf ein Kind und dessen Familie zukommen werden, wenn man weiß, worauf man achten muss.

Leider kenne ich persönlich nur sehr wenige Kinderärzte und/oder Elementarpädagoginnen, die Anzeichen erkennen und zuordnen können und somit Eltern entsprechend animieren, schon früh – also deutlich vor der Schuleinschreibung – Schritte zum Wohl ihrer Kinder zu setzen. Die meisten Menschen, die nicht nur privat, sondern auch beruflich mit Kindern zu tun haben, erkennen die Anzeichen nicht bzw. wissen nicht um deren Bedeutung, Ursache und Folgen. Sie erkennen zwar, dass ein Kind da oder dort ein gewisses, (möglicherweise manchmal) herausforderndes Verhalten an den Tag legt oder sich anders benimmt als seine Spielgefährten, aber warum das so ist bzw. wohin das führen kann oder wird, wenn nicht geholfen wird, darüber weiß man sehr wenig – zu sehr hat sich die Volksweisheit „Das wächst sich aus“ in die Köpfe der Menschen eingebrannt; leider zu Unrecht.

Schade. Denn es wächst sich nicht aus. Probleme vergehen nicht einfach so. Natürlich verändert sich ein Kind im Laufe des Erwachsenwerdens, manches Verhalten wird leichter zu ertragen, das meiste wird aber eher „anders“ kompensiert. Verschwinden oder sich von selbst auflösen wird es sich nicht.

Wieso? Weil die Probleme, von denen ich spreche, nicht schlechte Angewohnheiten sind, sondern weil das Kind in seiner Entwicklung den einen oder anderen Meilenstein übersprungen hat und die Hirnreifung deshalb nicht Schritt für Schritt aufeinander aufbauend erfolgen konnte. Somit haben sich manche Bereiche nicht entsprechend entfalten können. Eine mangelhafte Vernetzung im Großhirn bedeutet nicht, dass ein Kind dumm ist. Aber es nimmt anders wahr, optisch, akustisch, motorisch, sensomotorisch, räumlich und diese andere Wahrnehmung hindert es daran, sich so zu verhalten oder jene Leistungen erbringen zu können, die unser Schul- oder Gesellschaftssystem erwartet. Die gute Nachricht: Aufgrund der Neuroplastizität des Gehirns kann mit den entsprechenden Übungen eine Nachreifung angeregt werden, sodass nach und nach mit etwas Geduld und Ausdauer durch neu gebildete Synapsen und die Aktivierung des Zentralnervensystems eine bessere Zusammenarbeit im Großhirn entsteht und sich die Symptome der fehlenden Entwicklung, die in Form von Verhaltens- oder Lernproblemen erkennbar sind, reduzieren – je nach Schweregrad können sie irgendwann möglicherweise tatsächlich weitestgehend verschwinden.

Wie funktioniert das nun?

Wenn ein Baby auf die Welt kommt, kann es bekanntlich noch sehr wenig, aber es lernt in einem unglaublichen Tempo, wobei ein Teil des Lernens die Steuerung seines Körpers ist. Dazu durchläuft es im Idealfall in der richtigen Reihenfolge ungefähr zu den richtigen Zeiten entsprechend der Nachreifung des Gehirns eine gewisse Abfolge an Bewegungen. Diese Abfolge hat schon einen gewissen physiologischen Spielraum. Damit meine ich, dass nicht ganz streng zu einer bestimmten Lebenswoche eine bestimmte Entwicklung einsetzen muss, aber im Grund sollte die Mobilität auf abgeschlossenen Stufen zu bestimmten Zeitpunkten aufbauen, damit die Stabilität – sowohl motorisch als auch in der Wahrnehmung – gegeben ist.

Ab etwa der sechsten Lebenswoche entwickelt sich die Kopfkontrolle in der Bauchlage. Das Baby kann anfangs nur kurz, dann immer länger den Kopf heben und schließlich nach rechts und links drehen.

Mit etwa drei Monaten kann es in der Bauchlage den symmetrischen Unterarmstütz einnehmen, wobei die Hände geöffnet sind und der Unterkörper entspannt bleibt.

Ab dem vierten Lebensmonat ist ein diagonaler Kontakt zwischen den Augen, den Händen, den Füßen und dem Mund möglich. In der Praxis bedeutet das, dass das Kind mit beiden Händen bewusst einen Fuß ergreift, ihn betrachtet und in den Mund nimmt. Je intensiver diese Phase bei dem Baby ist, desto sicherer wird sich das Kind später beim Gehen und Stehen fühlen. Für die Hirnreifung bedeutet der diagonale Kontakt die Kreuzung der Körpermitte, die das Zusammenspiel der beiden Gehirnhälften vertieft.

Im fünften Lebensmonat beginnt das Rollen vom Bauch auf den Rücken und umgekehrt über die linke und rechte Seite. Sollte das Baby eine deutlich bevorzugte Körperseite haben, ist es eine wichtige Unterstützung, die andere, schwächere Seite aktiv anzuregen.

Ab dem sechsten Lebensmonat entwickelt sich aus dem Armstütz der Vierfüßlerstand als Vorstufe des Krabbelns. Das Vor- und Zurückwippen ist dabei ein wichtiges Element beim Erlernen des Gleichgewichtssinns.

Im siebenten Monat kann das Baby aus dem Vierfüßlerstand seinen Schwerpunkt so weit seitlich verlagern, dass es in den Seitsitz gelangt, die Übergangsposition zum Krabbeln bzw. zum späteren Aufrichten.

Im achten Monat setzt die höchste Form der Fortbewegung ein, das Krabbeln, bei dem alle vier Extremitäten unabhängig voneinander bewegt werden, wiederum ein unerlässlicher Bewegungsablauf für eine optimale Hirnreifung. Umso bedauerlicher ist es, wenn Eltern von Kindern, die nicht zu krabbeln beginnen, von Fachleuten die (Fehl)Information erhalten, dass das nicht so schlimm sei, denn „Gehen lernen noch alle Kinder.“ Es geht hier nicht ums Gehen, es geht um die Entwicklung des Großhirns und dem Zusammenspiel seiner Funktionen.

Im neunten Monat kommt das Kind ohne Hilfe nun auch ins freie Sitzen, seitlicher Stütz ist nicht mehr notwendig.

Zwischen dem zehnten und dem zwölften Monat beginnt sich das Baby an Gegenständen aufzuziehen, wobei es zumeist über den Kniestand dann auf die Füße kommt. Es lernt nach und nach durch Entlanghanteln sich seitlich fortzubewegen, bis die ersten freien Schritte folgen.

Bei Babys, die deutlich zu früh oder zu spät geboren wurden, können sich diese Zeitangaben ein wenig verschieben. Allerdings ist die Reihenfolge, mit der sie aufeinander aufbauen weiterhin entscheidend. Wenn Dein Baby einen Entwicklungsschritt viel zu früh erreicht (z.B. Stehen mit 7 Monaten), etwas auslässt oder nur mangelhaft durchführt, zögere nicht, Dich an einen Fachmann zu wenden. Schlimmstenfalls hast Du umsonst nachgefragt und mit Deinem Baby ist alles in Ordnung. Liegt allerdings eine reflexbasierte Einschränkung vor, kannst du ohne große Mühe Gegenmaßnahmen setzen.

Damit Dein Baby das bewusste Steuern seines Körpers lernen kann, ist es vorerst auf seine Reflexe angewiesen, also Bewegungen, die es nicht absichtlich ausführt, sondern die vom Körper aus als Reaktion folgen, beispielsweise das Bilden einer Faust, wenn es in der Handfläche stimuliert wird (Handgreifreflex).

Die frühkindlichen Reflexe integrieren sich nach und nach und sind im Idealfall begleitend zur Entwicklung der Meilensteine (vergleiche oben) nicht mehr auslösbar. Gut integrierte Reflexe gehen Hand in Hand mit einem ausgeglichenen Körpertonus, dem Normtonus, der die Grundlage einer optimalen motorischen, aber auch kortikalen Entwicklung ist.

Andererseits hat sich gezeigt, dass zu oft ausgelöste Reflexe nicht mehr gut in den Körper integriert werden können, den Muskeltonus beeinträchtigen, die Gehirnreifung hemmen. Sowohl eine hypotone (zu lasche) als auch eine hypertone (zu straffe) Muskelspannung stehen auf Dauer einer gesunden Entwicklung im Weg. Anzeichen, dass bestimmte frühkindliche Reflexe nicht integriert sind, sind beispielsweise verzögerte Meilensteine, eine bevorzugte Seite, Schlafprobleme (auch ein auffallend hohes Schlafbedürfnis kann ein Anzeichen sein), Trinkprobleme, abgeflachter Hinterkopf, keine symmetrische Entwicklung der Körperseiten, Verdauungsprobleme, rasche Erschöpfung, auffallend viel Speicheln, Zähneknirschen, motorische Unruhe, frühes Gehen und anderes mehr.

Wer noch ein kleines Baby hat, kann sich von einem ausgebildeten Rotatherapeuten oder einer Rota Prophylaxe-Anwenderin in wenigen Stunden die optimalen Halte-, Wickel- und Alltagspositionen zeigen lassen, um sein Baby so anzugreifen, dass möglichst keine Reflexe ausgelöst werden. Wenn man weiß, worauf man achten muss und bereit ist, ein bisschen Zeit zu investieren, um sich umzustellen, hat man die Handhabung bald verinnerlicht. Das unterstützt, dass die Reflexe bestmöglich in den Körper integriert werden, sich ein gut ausgeglichener Muskeltonus entwickelt und die naturgegebene Hirnreifung einsetzen kann.

Abgesehen von günstigen Haltepositionen unterstützt Du Dein Baby, wenn Du es so oft wie möglich, im Idealfall immer, barfuß sein lässt. Der oben angesprochene Augen-Hand-Fuß-Mund-Kontakt kann erst ohne Socken richtig gut ausgelebt werden. Wenn Du nicht sicher bist, ob es nicht doch notwendig ist, dass Dein Baby Socken anzieht, dann kannst du diese Regel beherzigen: Wenn Du nicht geneigt bist, ihm Handschuhe anzuziehen, braucht es auch keine Socken.

Wenn Du schon ein größeres Baby hast oder ein Kind im Kindergarten- oder Schulalter, gibt es weiterhin Anzeichen für persistierende Reflexe – zur Erinnerung: Von selbst lösen sie sich nicht auf!

Weitere Beispiele für Anzeichen einer Tonusfehlregulation sind ein auffällig erhöhtes oder vermindertes Schlafbedürfnis, schlechter und unruhiger Schlaf, ein überstreckter Nacken in der Schlafposition, eine schlechte Verdauung – egal ob der Stuhl zu hart ist oder zu breiig, ein über- oder unterdurchschnittlicher Bewegungsdrang, eine schlechte Körperhaltung, Tollpatschigkeit und ein asymmetrisches Aussehen.

Auch im Sozialverhalten kann man die Folgen nicht integrierter frühkindlicher Reflexe ablesen von ängstlich über zurückgezogen bis zu depressiv einerseits oder distanzlos und sogar aggressiv andererseits. Kinder mit übersteigertem oder auffallend geringem Schmerzempfinden, Hochsensibilität, Ticks und Automatismen, zu geringer Frustrationstoleranz, vermeidendem Blickkontakt oder Kasperleverhalten sind häufig Kinder, bei denen Reflexe „dazwischenfunken“.

Was die Leistungen in der Schule betrifft, sind es klassischerweise die Kinder, die ihren Kopf beim Schreiben auf einer Hand abstützen, die „mit der Nase schreiben“, ein Bein um den Stuhl winden, um sich am Sessel zu fixieren. Oder jene, die schneller ermüden, in eine Träumerei abdriften oder ganz im Gegensatz Kinder, die nicht still sitzen können, die mit dem Stift zu fest aufdrücken, bei denen es nicht eindeutig ersichtlich ist, ob sie Rechts- oder Linkshänder sind, weil sie sich selbst nicht gut spüren, die tendenziell auf den Zehenspitzen gehen oder beim Stiegensteigen einen Fuß nachstellen.

All das sind optisch leicht erkennbare Anzeichen, die man auch mit ungeschultem Auge wahrnimmt. Sie zeigen oftmals nicht integrierte frühkindliche Reflexe und/oder einen instabilen Muskeltonus.

Häufig fragen betroffene Familien, warum diese Probleme heute deutlich öfter auftauchen als früher, wenn schon generationenlang Babys auf dieselbe Art gehalten werden und kein Augenmerk auf Reflexvermeidung gelegt wurde. Eine unerforschte, aber aus meiner Sicht schlüssige Antwort wäre diese:
Persistierende Reflexe können zu einem späteren Zeitpunkt besonders durch Dreh- und Rotationsbewegungen, die das zentrale Nervensystem aktivieren und stimulieren, nachreifen. Ich gehe davon aus, dass auch früher bei vielen Kindern die Problematik ursprünglich bestanden hat, sich aber durch ein artgerechtes Aufwachsen mit vielen Bewegungsmöglichkeiten, viel Natur und Spiel mit Gleichaltrigen, Purzelbäumen auf der Wiese und Kreisspielen die Integration nachträglich auf natürliche Weise stattgefunden hat.

Wie weit unser Nachwuchs mittlerweile von einer „artgerechten“ Entwicklung entfernt ist, sieht man, wenn man heute Kleinkinder in Krippen und Kindergärten beobachtet und feststellen muss, dass beispielsweise Dreijährige ohne Hilfe keinen kleinen Hügel bis zur Rutsche hinaufgehen können, weil durch das immer gerade Gehen am Asphalt die Sehnen verkürzt sind. Oder dass Einjährige, wenn sie ein Buch sehen, über den Umschlag wischen, weil sie das Buch mit einem Tablet verwechseln.

Es ist allerdings nie zu spät, erkannte Anzeichen von übersprungenen Meilensteinen, persistierenden Reflexen oder abweichendem Normtonus auszugleichen. Dafür eignet sich Rota-Therapie, die im gesamten deutschsprachigen Raum angeboten wird. Hier findet man Therapeuten und Anwenderinnen, die sowohl präventiv als auch beim Auftauchen von Problemen weiterhelfen können. Je intensiver, konsequenter und häufiger das Training, das schon nach der ersten Einheit zu Hause gemacht werden kann, angewendet wird, desto besser sind die Erfolge.

Übrigens:
Rota Therapie ist nicht nur für die Nachreifung des Gehirns im Fall von Entwicklungs- oder Lernproblemen hilfreich, es kann bei allem helfen, was im Körper selbst entstanden ist, auch beispielsweise bei der Regeneration nach einem Schlaganfall.

 

Buchtipp: Rota – Rotation. Nahrung fürs Gehirn von Doris Bartel

Credits

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PNG – 007-YOUTUBE Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0
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Bildschirmfoto vom 2023-08-24 12-39-18 Wolfgang Müller CC BY-SA 4.0

Diskussion (Ein Kommentar)

  1. Wie wahr, was Frau Kosta schreibt, sollte jede Mutter und jeder Vater (am besten gleich vor der Geburt) lesen. Kompakt und kompetent wird dargestellt, was sonst nur in dicken Entwicklungspsychologielehrbüchern steht.
    Danke für den Satz „das wächst sich nicht aus“ – wie wichtig ist es, mit solch verbreiteten, unreflektierten Schwachsinn klar argumentiert aufzuräumen.
    Danke, von Ihnen können Pädagoginnen und Psychologinnen was lernen.