Der Zauber der Palästinenser
Bisher glaubte ich, dass unsere Auffassungen unsere Vorstellungen formen. Oder ist es umgekehrt – ist es unsere Vorstellung, die unsere Auffassungen formt? Mein Besuch in Palästina machte mir klar, dass dieser Vorgang in beide Richtungen verläuft und beide Dinge simultan funktionieren.
All das Wissen, das ich über Palästina und die Palästinenser gesammelt hatte aus Büchern und anderen Medien, bei Seminaren und Konferenzen, die ich besucht hatte, hatte in meinem Verstand eine bestimmte Auffassung von diesen Menschen geformt. Und so stieg jedes Mal, wenn ich über Palästina und die Palästinenser nachdachte, ein düsteres Bild in meinem Kopf auf: ein Land, verwüstet von einem nicht endenden Konflikt. Seine Bewohner erschöpft, doch noch immer auf jede mögliche Art kämpfend. Finstere, aber entschlossene Gesichter und ermattete Körper.
Dann kam ich nach Palästina, lernte die Palästinenser kennen und war völlig verblüfft.
Die Organisatoren des Jugendcamps arrangierten einen Kulturabend für die Teilnehmer. Es war erst der zweite Tag im Camp, und bis dahin hatte ich noch keine Vorstellung von der überschwänglichen Attitüde der Palästinenser. Der Veranstaltungsort war eine kleine offene Rasenfläche in einem der UN-Center in Jericho.
Wir erreichten den Veranstaltungsort nach unserem Abendessen im Camp. Zunächst freuten wir uns darauf, dass wir ein paar palästinensische Lieder hören und Volkstänze sehen würden. Wir hatten keine Ahnung davon, was uns wirklich erwartete! Da die meisten Plätze besetzt waren, ließ ich mich zusammen mit ein paar Freunden auf dem üppig grünen Rasen nieder. Ein Mann im Anzug trat vor und wurde uns vom Organisator des Camps als ein bekannter palästinensischer Sänger aus der Stadt vorgestellt. Er begann ein palästinensisches Lied zu singen, während ein paar Musiker traditionelle Instrumente spielten. Langsam fing es an, Spaß zu machen. Die palästinensischen Teilnehmer und viele Mitglieder des Organisationskomitees begannen, mitzusingen. Da wir kein Arabisch verstanden, blieb uns nur zuzuhören und die Musik zu genießen.
Nach einer halben Stunde kamen einige junge Palästinenser in traditioneller Kleidung hinter der Bühne hervor und begannen zu tanzen, während der Sänger noch immer sang. Ich erfuhr, dass sie einen „Dabke“ aufführten.
Dabke ist einem Stepptanz sehr ähnlich mit stampfenden Schritten, er kombiniert Kreisfiguren und lineare Figuren. Einer meiner palästinensischen Freunde erzählte mir, dass es viele verschiedene Varianten des Dabke gibt. Unter den Palästinensern sind zwei davon populär, „shamaliyya“ und „sha’rawiyya“, während es in Jordanien nicht weniger als 19 Varianten gibt. Zu jedem Typ des Dabke gehören bestimmte Lieder, deren Texte sich normalerweise um die Liebe drehen.
Ich sah den Tänzern äußerst aufmerksam zu. Es war, als würde ich den Duft der palästinensischen Kultur erleben. Nach ein paar Minuten gingen einige der palästinensischen Teilnehmer des Jugendcamps auf die Bühne, wo die Tänzer den Dabke vorführten, und tanzten mit ihnen. Für uns war das völlig unerwartet!
Und so dauerte es nicht mehr als ein paar Minuten, bis auch wir dabei waren. Wir konnten uns nicht nur zurücklehnen und ihnen dabei zuschauen, wie sie Spaß hatten! Tatsächlich begannen alle Anwesenden zu tanzen; wir lernten rasch ein paar Dabke-Schritte und tanzten mit den Palästinensern. Ich bemerkte, dass wir alle nach ein paar Minuten zu schwitzen begannen, da der Dabke komplizierte Schritte hat und auch kleine Sprünge auf unterschiedliche Art verlangt.
Als ich erschöpft war, verließ ich den Tanzplatz und setzte mich. Einige palästinensische Freunde fragten mich, ob ich eine Schischa mit ihnen rauchen wolle, eine Wasserpfeife. Eine Schischa ist ein Instrument mit mehreren Schläuchen, mit dem man aromatisierten Tabak raucht. Der Rauch wird durch einen Wasserbehälter gesaugt, bevor man ihn inhaliert. Die Schischa schien sehr populär unter den Palästinensern zu sein.
Ich war neugierig darauf, diese Lebenseinstellung zu verstehen. Ich war fasziniert, ihre Überschwänglichkeit zu sehen nach alldem, was ihnen normalerweise widerfährt. Schließlich erklärte mir ein sehr junger Palästinenser, wie sie es schafften, so fröhlich zu erscheinen:
Wir können nicht aufhören zu leben, nur weil ein paar Menschen uns immer und überall schikanieren. Unser Enthusiasmus und unser Appetit aufs Leben nach all dem Leiden und den Schwierigkeiten machen die Israelis verrückt. Unsere Fähigkeit, das Leben zu genießen und gut gelaunt zu bleiben, ist für die israelischen Behörden bedrohlich. Sie können versuchen, uns das Leben schwer zu machen, sie können uns Schmerzen zufügen, doch sie können sich nicht in die Art einmischen, wie wir das Leben sehen.
Alles, was er sagte, war zutreffend. Die Palästinenser haben nicht aufgehört zu leben, weil sie unter einer Besatzung stehen und von den israelischen Behörden auf jede nur mögliche Art gequält werden. Ich lernte eine sehr wichtige Lektion an diesem Tag.
Und die Palästinenser sangen und tanzten nicht nur heute: Ich sah, wie sie an jedem einzelnen Tag Spaß hatten. Sie spielten laute Musik im Bus und motivierten jeden zu tanzen und zu singen. Sie sangen und tanzten sehr oft, viele Male begannen sie spontan nach dem Abendessen damit. Ihre Lust aufs Leben war neu für mich. Sie hatten an jedem einzelnen Tag zu kämpfen, doch der Kampf und der Verlust, den sie so häufig erfuhren, konnten ihre Leidenschaft fürs Leben und ihre positive Einstellung nicht dämpfen.
Ich war nach Palästina mit einer bestimmten Vorstellung im Kopf gereist. Ich kam zurück mit einer völlig gegensätzlichen Erfahrung. Es gibt vieles, was wir von den Palästinensern lernen können!
Übersetzung Englisch-Deutsch: Martin Krake